Volltext Seite (XML)
Beilage zur Weitzeritz-Zeitung Sonnabend, am 20. April 1929 Nr. 92 95. Jahrgang Chronik des Tages. — Lord Revelstore, der Vorsitzende des Unterausschus ses der Reparationskonferenz, ist im Alter von 68 Jahren plötzlich gestorben. — Die Reparations-Konferenz hat ihre entscheidende Plenarsitzung auf Montag verschoben. — Das Reichskabinett beschäftigte sich in einer Kabi- nettssitzung mit wirtschaftspolitischen Fragen. — Das Luftschiff „Graf Zeppelin" hat eine große Fern fahrt über Süddeutschland ausgeführt. — Die amtlichen Verhandlungen im Ruhrbergbau fin den vor dem Schlichter von Westfalen endgültig am Mon-, tag, den 22. April, vormittags, in Dortmund statt. — Die Berliner Mordkommission ist von Hirschberg nach Berlin zurückgekehrt. — Räuber haben auf einem polnischen Gehöft drei Personen getötet und dann das Haus ausgeplündert. — In Bulgarien ist die Temperatur von 20 Grad über Null unter den Gefrierpunkt gesunken. Es herrsch, heftige Schneestürme. Von Woche zn Woche. Randbemerkungen znr Zeitgeschichte. Die Pariser Reparations-Konferenz ist im Schei tern! Das ist das Ereignis der Woche, dem gegen über alles andere in den Schatten tritt. Die franzö sische Presse schleudert heftigste Anklagen gegen die deutsche Delegation, und doch sind sie grundlos. Die deutsche Denkschrift enthielt durchaus beachtenswerte Gedanken, Möglichkeiten zur Einigung. Den Hinweis aus den Versailler Vertrag kann man uns nicht ver argen, schließlich hat doch das Versailler Diktat in seinen Auswirkungen unsere Leistungsfähigkeit erheb lich beschränkt. Am Freitag sollte dann die Vollkon ferenz einen endgültigen Beschluß fassen. Als man aus die Depeschen wartete, kam die Nachricht: Ver tagung der Entscheidung auf Montag, weil plötzlich Lord Revel st oke gestorben ist. Die deutsche Denkschrift über die Reparationsfragc geht von zwei Grundsätzen aus, die von dem amerika nischen Schatzsekretär Mellon bei den Schuldenabkom- men mit den Alliierten stets beachtet worden sind und die auch der Dawesplan respektiert wissen will: den berechtigten Ansprüchen der Gläubiger und der tatsächlichen Leistungsfähigkeit des Schuld ners. Im wesentlichen enthält die deutsche Denkschrift folgende Ausführungen: Wie der Dawesplan anerkennt, können Repara tionen nur aus einem wirtschaftlichen Ueberschuß — also vom Gewinn — bezahlt und nur durch «inen Ue berschuß im Ausfuhrhandel finanziert werden. In Wirklichkeit hat Deutschland die Reparationen aber durch Eingriffe in sein Vermögen bezahlt und durch AuSlandSkredite finanziert. Der Fehlbetrag in der deutschen Zahlungsbilanz betrage in den vier Jahren seit Gültigkeit des Dawesplanes 16 Milliarden Mark. In der gleichen Zeit habe Deutschland für etwa 16 Milliarden Mark kurz- und langfristige Anleihen ausgenommen und einen großen Teil seiner Aktien an das Ausland verkauft. Seit Inkrafttreten des Frie densvertrages habe Deutschland in Ausführung der Reparationsverpslichtungen 4 6,5 Milliarden Goldmark in bar und Sachlieferungen aufgebracht. Die Folgen dieser Entwicklung zeigten sich darin, daß der Ertrag der deutschen Industrie in ständigem Sinken begriffen sei, die Landwirtschaft seit Jahren mehr ausgebe als vereinnahme und die Arbeitslosen- zisser eine bedenkliche Höhe erreicht habe. Angesichts dieser Verhältnisse könnte es nur eine Frage der Zeit sein, wann die Sicherheitsventile, die der Dawesplan zum Schutze der deutschen Währung enthalte, in Aktion träten. Jede endgültige Lösung müsse das Risiko für die deutsche Wirtschaft noch erhöhen; Schutzmaßnahmen feien deshalb unerläßlich. Vor allem müßten die wirtschaftlichen Energien gestärkt werden. Das aber sei unmöglich, solange Deutschland an einer vollen Kraftentfaltuna und selbständigen Finanz gebarung durch fremde Kontrollen und andere Belastungen verhindert werde. Notwendig sei ins besondere eine Erweiterung der Rohstoff- Grundlage, die die deutsche Einfuhr herabsctzen würde. Diese Rohstosfgrundlage könnte z. B. in über - seeischen Ländern gefunden werden, die Deutsch land aus eigener Kraft entwickeln wüßte. Die Le bensmitteleinsuhr sei bedingt durch die Abtrennung großer Gebiete im Osten und durch die Abschnürung Ostpreußens. Hier müßten Erleichterungen geschaffen werden. Eine weitere Voraussetzung für die Hebung der deutschen Zahlungsfähigkeit sei die Erschließung neuer Absatzmärkte. Der zweite Teil des deutschen Memorandums ent hielt den in seiner Höhe bereits mitgeteilten Zahlungs vorschlag. Dieser sah eine feste, auf die Dauer von 37 Jahren zu zahlende unveränderliche Annuität in Höhe von 1660 Millionen Mark vor. Veränderlich gestaltet waren dagegen die Modalitäten und Bedin gungen für den Transferschutz und die Ausbrigungs- möglichkeiten. Nach dem ersten Zahlungsplan war zwischen nichtgeschützten, geschützten Zahlungen und Sachliefe- rungen zu unterscheiden, deren Gesamtbetrag 1650 Millionen Mark ausmachte. Im ersten Jahr sollten die geschützten und nichtgeschützten Barzahlungen je 460 Millionen Mark und die Sachlieferungen 750 Millionen Mark betragen. Mit dem 11. Jahr sollten die Sachlieserungen völlig in Fortfall kommen. Zur Voraussetzung hatte dieser Plan A, daß die Sachver ständigen den Maßnahmen zur Erhöhung der deut schen Zahlungsfähigkeit zustimmten. Falls die Gläu biger dazu nicht bereit waren, sollte ein zweiter Zah lungsplan in Kraft treten, der lediglich geschützte Bar zahlungen und Sachlieferungen vorsah. Die Transfer klausel sollte dahin eingeschränkt werden, daß Deutsch land die Reparationen unter allen Umständen aufbrin- gcn und zeitweilige Verhinderungen von Transferie rungen später nachholen müßte. Um den Gläubigermächten noch nach dem 37. Jahr Zahlungen zu gewähren, regte die deutsche Denkschrift an, solche Leistungen aus den Gewinnen der geplanten Dawes-Zentralbank zu entnehmen. Lord Revelstoke gestorben. Die Entscheidung auf Montag vertagt. — Kabinettsberatung in Berlin. — Paris, den 19. April. Die Ereignisse auf der Reparationskonferenz haben sich in den letzten Stunde,» überstürzt. Mit einem Schlage war gestern alle Hoffnung zerflattert! Der von Lord Revelstoke geführte Unterausschuß er achtete weitere Berhandluuge» für zwecklos, die Ha- vaS-Agentur verbreitete eine Meldung, in der die Kon- ferenz bereits als gescheitert bezeichnet und den Deut schen die Schuld zugeschoben wurde. Am Freitag woll ten die Sachverständigen zn einer neuen Bollsitzung zusammentreten und das letzte Wort sprechen. Mit gespannter Erwartung sah alle Welt der Sitzung ent gegen; doch kam es nicht zum Zusammentritt der Kon ferenz; Lord Revelstoke, der Borsitzende des Unter ausschusses, war plötzlich gestorben. Heute Bormit- täg fand man ihn tot in seinem Bett auf! Die Sach verständige» sagten die Sitzung ab und vertagten sich auf Montag. Der Eindruck dieser neuen Wendung war tief. Lord Revelstoke war zwar nicht der Führer der eng lischen Delegation, er gehörte aber zu den maßgebend sten und einflußreichsten englischen Finanzmännern. Aus einer alten und angesehenen Familie stammend, Mitinhaber einer großen Bank, im Besitz bester Finanz kenntnisse, hat Revelstoke wiederholt eine große Rolle gespielt, so z. B. 1923 in Tokio nach der japanischen Erdbebenkatastrophe. Sein Tod kommt allerdings in sofern nicht überraschend, als Lord Revelstoke seit Jahren an einem hartnäckigen Herzleiden litt. Und sein Tod ist infolge Herzschlags eingetreten — Berlin, den 20. April. Das Reichskabinett hielt gestern eine Sitzung ab und beschäftigte sich mit wirtschaftspolitischen Fragen. Wie verlautet, hat sich das ReichSminrsterium auch über die durch die neue Wendung in Paris geschaf fene Lage ausgesprochen. Beschlüsse konnten natürlich nicht gefaßt werden, weil die Sachverständigen unab hängig sind und ihnen keine Regierung dreinreden darf. In parlamentarischen Kreisen hat man die Hoff nung, daß schließlich doch noch irgendwie ein Abbruch der Konferenz vermieden wird, noch nicht äufgegeben. Die Haltung der deutschen Delegation witd von allen Setten gebtlligt. Wenn man sich auch darüber klar ist, daß die Stunde ernst ist, jst doch nirgends eine Panikstimmung bemerkbar; * Der Eindruck an der Börse. Scharfe Kursrückgänge. — Große Devisenverluste. — Aber man bewahrt ruhig Blut. Lie kritische Zuspitzung der Reparationsverhand lungen in Paris hat an den deutschen Börsen zu gro ßen Verkäufen geführt, die einen Rückgang der Kurse nach sich zogen. Die Verluste betrugen vielfach bis zu 5 Prozent des tatsächlichen Wertes oder bis zu 20 Punkten. Erklärlich ist das insofern, als die Bör sen fast unentwegt auf einen Erfolg der Konferenz ge hofft hatten. Es verdient jedoch festgestellt zu werden, daß man in den deutschen Finanzkreisen auch jetzt durchaus ruhig Blut bewahrt. Eine wesentliche Verschlechterung gegenüber den jetzigen Verhältnissen wird nicht erwartet, man befürchtet auch keinen Ab zug von Auslandsgeldern, ist vielmehr der Ansicht, daß über kurz oder lang doch irgend eine Verständigung erzielt werden muß. Beunruhigt wurde die Börse ferner durch die starke Nachfrage nach Devisen. Die Reichsbank mußte einspringen und Devisenabgaben vornehmen. Gegen Schluß der Börsenzeit trat wieder eine Be ruhigung ein. Mit einer Erhöhung des Diskont satzes wird noch nicht gerechnet. Außer Devisenab gaben hat die Reichsbank auch beträchtliche Goldver- käufe vorgenommen. ' Die Borgänge an der Börse dürfen jedoch nicht so ansgelegt werden, als drohe irgend eine ernste Er- schütterung für Deutschland. Die deutsche Währung ist absolut gesichert, und es wäre einfach lächerlich, wollte jemand Befürchtungen für die Beständigkeit der Reichsmark hegen. * Persönliche Erklärung Schachts. — Paris, 20. April. Dr. Schacht erklärte dem Pariser Vertreter des „New Uork Heraw", daß er unter keinen Umständen nach einem politischen Amt strebe, wie etwa der Kanzlerschaft. Er bezeichnete den weit verbreiteten Glauben unter den Sachverstän digen, seine Haltung bei den Verhandlungen sei durch politischen Ehrgeiz bestimmt gewesen, als großen Irrtum. Abbruch oder Zwischenlösung? Wie es zur Krise kam. — Hetz« in Paris. — Eini gung auf IS Jahre möglich? — Paris, den 20. April. Lie französische Presse, die anfangs sehr erregt war und der deutschen Delegation das schlimmste an- dicktete, beruhigt sich wieder. Vielleicht auch deshalb, well die Agentur Havas mit ihrer eigenartigen Mel- düng, die Konferenz sei bereits zu Ende, und die Deutschen würden an den neuen Sitzungen nicht mehr teilnehmen, sich denn doch ein starkes Stück geleistet hat. An dieser Meldung war kein Wort wahr! Was wird nun der Montag bringen? Zunächst gehen die informatorischen Besprechungen weiter» Es scheint, daß man vor allen Dingen jede Möglichkeit von Mißverständnissen ausschließen will. Mißverständ lich aber wurde die Anregung in Dr. Schachts Vorschlag ausgefaßt, Deutschland die Zahlungsfähigkeit dadurch zu erleichtern, daß man ihm eine genügend große Roh stoffbasis zugesteht. Auch sein Hinweis auf den Ver lust eines Gebietes mit landwirtschaftlichem Ueber schuß im Osten wurde unberechtigterweise als eine „Hin eintragung der Politik in die sachliche Debatte" ausgefaßt. Die deutsche Delegation weist nun darauf hin, daß es verfehlt sei, diese Hinweise als einen Grund für die Unmöglichkeit einer Einigung hinzustellen, einen politischen Zweck hatten sie keineswegs. Man habe nur rein sachlich damit zeigen wollen, wie schwer es für Deutschland sei, ohne Rohstoffbasis und ohne ge nügende Probuktionsmöglichkeiten so enorme Summen äuszubringen, wie Dr. Schacht sie anbot. Bielleicht wird man am Montag nach einer Zwi schenlösung suchen, wie die Engländer und der ame riranische Vorsitzende Owen Young es anregte«. Auch Dr. Schacht soll sich für eine Zwischenlösung von etw« iS Jahren ausgesprochen haben. UebrigenS ist auch die erste ReparattouS-Kouferenz wenige Tage vor der entscheidenden Einigung totgesagt worden. Jedenfalls behält die deutsche Delegation nach wie vor die Nerven nud sagt klipp und klar: Lieber Rückkehr zu« DaweS» plan als Uebernahmc einer ZshlnngSverPflichtnng, die nicht eingehakten werden kann! Die Festigkeit der deutschen Delegatton macht in Paris einen starken Eindruck. Die Tonart der Pariser Presse ist zwar noch immer heftig, aber man läßt doch bereits durchblicken, daß das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. Richtlinien für den Wohnungsbau. Bom Ausschuß in der vorgeschlagenen Fassung ge nehmigt. Der Wohnungsausschuß des Reichstags genehmigte nach längerer Aussprache die Reichsrichtlinien für die Finanzierung des Wohnungsbaues im wesentlichen in der Fassung der Vorlage. Die öffentliche Hand soll auch weiterhin ausschlaggebend bei der Finanzierung des Wohnungsbaues Mitwirken. Die Mieten der mit Beihilfen aus öffentlichen Mitteln erstellten Neubau wohnungen sollen für die breiten werktätigen Massen wirtschaftlich tragbar und so bemessen sein, daß sie 15 Prozent des Einkommens der kinderreichen Fa milien nicht übersteigen. Zur Unterstützung des Woh nungsbaues sollen auch Steuer- und Gebührenerleich terungen gewährt werden. Die Einführung von Bau sparkassen, die in bezug aus Finanzierung und Ver waltung einwandfrei sind, soll nach Kräften geför dert werden. Ein drakonisches Urteil. Die schleswig-holsteinische Presse zum Beidenflether Baucruprozeß. Das Urteil im Beidenflether Baucrnprozeß wird von dem größten Teil der schleswig-holsteinischen Presse lebhaft besprochen. Fast übereinstimmend wird zum Ausdruck gebracht, daß das Urteil in seinem Ausmaß sehr hart ausgefallen sei. Auch wird der Uebcrzeugung Ausdruck gegeben, daß man vielleicht besser getan hätte, wenn der ganze Streit um die gepfändeten Ochsen Nicht zu einer Staatsaktion gemacht worden wäre. Das Blatt der Landvolk-Bewegung, „Das Land volk", in Itzehoe, bringt seinen Bericht über den letzten Verhandlungstag und das Urteil unter der Ueberschrtft: „Ein drakonisches Urteil". An anderer Stelle veröffentlicht das Blatt einen Aufruf an das notleidende Volk, der von 26 Landwirten unterzeichnet worden ist, unter denen sich auch einige Angeklagte aus dem Itzehoer Prozeß sowie der Landvolk-Führer Hamkens-Tetenbüll und der Geschäftsführer -es Landvolkbundes in Itzehoe Weschke, befinden. In dem Aufruf heißt es unter anderem: „Wir fordern das notleidende Volk auf» bis zum IS. Mai alles Material, welches die vcrderbenbriugeude Tätigkeit «ud die falschen Maßnahme« »er BehSrde«. stellen beweise«, »er Nothilfe znznstellen, »amit sie, gestützt auf »ieses belastenvc Material, vorgehe« kann."