Volltext Seite (XML)
Beilage zur Weiheritz-Zeilung Nr. 86 Sonnabend, am 13. April 1929 98. Jahrgang Chronik des Tages. — Die Reichsregierung hat das Einreisegesuch Trotz kis endgültig abgelehnt. - Der neue Reichsgerichtsprästdent Dr. Bumke wird am heutigen Sonnabend feierlich in sein Amt eingeführt. — Die Sachverständigen der Gläubigermächt« haben ihre Sonderbesprechungen beendet und werden nunmehr ihre Verhandlungen mit den Deutschen wieder aufnehmen. — In München hat die Adac-AuSlandsfahrt begonnen, die durch Oesterreich, Jugoslawien und Wien führen soll. Von 143 gemeldeten Wagen hatten sich 114 etngefunden. Die Kolonne besteht zu zwei Drittel aus deutschen Wagen. — In Bologna wurden wieder schwere Erdstöße ver spürt. — Die Anhänger der Prohibition beabsichtigen di« Einbringung einer Kongreßvorlage, durch die der Alkohol- Verkauf auf den Schiffen der United States Line verboten werden soll. — Nach den letzten Nachrichten sind bei dem Tornado im nördlichen Arkansas 64 Menschen ums Leben gekommen. Bon Woche zu Woche. Randbemerkungen zur Zeitgeschichte. Vor 25 Jahren schrieb die englische Zeitung „Saturday Review" in einem Artikel,, der damals großes Aussehen erregte: „Die stärkste Ursache der Kriege ist der Wettbewerb aus dem Weltmarkt. Wenn Deutschland heute vernichtet wäre, dann gäbe cs morgen keinen Engländer, der dadurch nicht be reichert würde." Heute ist Deutschland erheblich geschwächt. Man hat sich nach dem Kriege trefflich darauf verstanden, Deutschland das Leben schwer zu machen. Die Vor aussetzungen für einen britischen Vermögenszuwachs wären also gegeben. Und in Wirklichkeit? Die Eng länder sind ärmer geworden! Sie haben ein Arbeitslosenheer, das dem deutschen nicht nachsteht, ruinierte Bergbaugebiete, Absatzschwierigkeiten, und da zu besteht die Gefahr, daß Amerika ihnen die Jahr hunderte hindurch beanspruchte Beherrschung der Welt meere streitig macht. Verwunderlich ist diese Entwicklung nicht. Jene Politiker, die geglaubt haben, das Glück der Welt hinge vom Ruin Deutschlands ab, verstanden nichts von ihrem Handwerk. Heute bestreitet niemand mehr, daß Europa nicht gedeihen kann, wenn ein Land von der Größe Deutschlands in Siechtum ge stoßen wird. Nur war der Weg zu dieser Erkenntnis für die Völker mit großen Opfern an Blut und Gut verknüpft. Während die europäische Wirtschaft alle Hebel in Bewegung setzen mußte, um wenigstens die Pro duktionsziffern der Vorkriegszeit wieder zu erreichen, nahm die amerikanische Industrie einen an Um fang und Dauer erstaunlichen Aufschwung. Möglich, daß die Wirtschaftskurve jetzt wieder abfällt. Es ist drüben manches übersteigert. Seit Monaten ist es in New Bork nichts Ungewohntes, daß junge Damen auf der Straße, in den Bahnen und in den Bureaus mit Eiser den Kurszettel studieren. Jeder spekuliert! Und wie großzügig man ist, geht daraus hervor, daß die Aktien nicht mehr nach dem Kapitalertrag bewertet werden, man nimmt vielmehr gleich die günstigsten Ereignisse der nächsten zehn Jahre vorweg, und für alles andere ist man blind! Das Spekulationsfieber löste Geldknappheit aus und steigerte die Zinssätze. Für Europa ist das insofern von Interesse, als auch wir in unserer An leihepolitik aus dem amerikanischen Topf schöpfen müs sen. Wer aber für sein Kapital schon in Amerika hohe Zinsen erhalten kann, hat keinen Anlaß, sein Geld in Europa anzulegen, es sei denn, die Euro päer zahlten noch höhere Zinsen! So unerfreulich alles das für Deutschland ist, . etwas Gutes kann dabei auch für uns heraussprin- gen — und das gilt besonders dann, wenn die Re- parationS-Sachverständigen in Paris noch nicht zu einer Einigung kommen sollten: Geht es so weiter, wie bisher, dann mutz die Ebbe auf dem Geldmarkt auch die Alarmglocke des Dawesplanes in Tätigkeit setzen: die Transferklausel. Konnten wir dock die uns bisher auferlegten Reparationstribute nur dadurch erfüllen, daß uns Amerika mit Krediten bei sprang. Für die Zukunft brauchen wir zur Erfüllung des Rcparationsprogramms jedoch nicht Kredite, wohi aber Jahresleistungen, die wir aus eigener Kraft aufbringen können! Und darum geht es seit Wochen in Paris. Die Gläubiger scheinen sich jetzt über die Abstriche von ihren ersten, überhohen Forderungen einig geworden zu sein. Es ist von einem Plan die Rede, nach dem Deutschland in den nächsten zehn Jahren durchschnittlich etwa 1,7 Milliarden und dann ansteigende und später wieder abfallende Raten zah len soll. Annehmbar ist auch dieses Projekt nicht! Da es aber noch nicht das letzte Wort bedeuten soll, ist anzunehmen, daß die Sachverständigen schließlich doch noch ein Ergebnis erzielen. Deutschland die Reparationen, das sind für die anderen die Ausgaben für die Rüstungen. Am Montag will man nun einen neuen Versuch zur Durchführung der Abrüstung machen. Nach viermona- tiger Pause tritt in Genf abermals die vorbereitende Ab- rüstungskommission zusammen. Nach dem, was bisher über diese Tagung bekannt geworden ist, wollen die Mitglieder der Kommission zwar den Anschein er- wecken, praktische Arbeit zu leisten, sie denken jedoch nicht daran, ernstlich an die Verwirklichung der Ab- rüstung heranzugeben. Bon den Vertretern Deutsch- De"utt-kl»nv^SwM aitt das selbstverständlich nicht. Deutschlands Kampf für die Abrüstung ist ein Kamvi gm das Recht, und Rußland setzt sich ehrlich für die Abrüstung ein, weil es sein Wirtschaftsprogrämm mn im Frieden durchführen kann. Jnnerpolitisch hat die letzte Woche endlich die Beendigung des Krisenwirrwarrs gebracht. Man mag die Große Koalition und eine andere für nütz, licher halten, das wichtigste Erfordernis ist zunächst, daß überhaupt eine feste Regierung vorhanden ist. Und die Fraktionen mögen nicht vergessen, daß auch unter dem parlamentarischen System Minister Füh rer fein sollen, die man zwar stürzen darf, die man jedoch nicht bei jeder Maßnahme am Gängelbands führen kann. Entscheidende Verhandlungen. Die Forderungen der Gläubiger. — Ultimatum oder Berhandlungsbasis? — Geriuge Hoffnungen aus Einigung. — Paris, den 13. April. Die Sachverständigen der Gläubigermächte haben ihre Sonderberatungen beendet und sich über einen Zahlungsplan verständigt, der der deutschen De legation vorgelegt werden soll. Unter dem Vorsitz Owen Uoungs traten die Delegierten darauf zu einer neuen Sitzung zusammen, in der darüber beraten wor den fein soll, in welcher Form man den Deutschen die Rechnung präsentieren will. Gemeinsame Sitzun gen der Sachverständigen der Gläubigermächt« und Deutschlands stehen bevor. Nach de» Mitteilungen, die in der Pariser Press« über den neuen Zahlungsplan gemacht werden, sind die Anssichten auf Einigung gering. Der Gesamt betrag der Reparationen und der von Deutschland geforderten Wiedererstattungen der KriegSschuldenzah- lungen an Amerika soll rund 38 Milliarden Gold mark ausmachen. Nach übereinstimmenden Meldun gen sollen die Jahreszahlunge» mit 1,7 Milliarden Mark beginnen und im Laufe von 37 Jahren aus 2,3 Milliarde» ansteige». Nach dem soll Deutschland weitere 21 Jahre hindurch jährlich 1,7 Milliarden Mar! zur Tilgung der interalliierten Kriegsschulden auf- briugen. Die französische Presse will diesen Zahlungsplan als das „äußerste, mögliche Zugeständnis" gewertet wissen. Sie schreibt, man werde diese Rechnung den Deutschen zwar nicht als Ultimatum präsentieren, man werde aber keinen Zweifel darüber lassen, daß es sich hier um das „letzte Wort" der Gläubiger handele. Wäre das der Fall, dann könnten sich die weiteren Verhandlungen also nur darum drehen, in welcher Art dieses — für uns unannehmbare — Programm abgewickelt werden soll. * Die Aussichten der Konferenz. Entspricht die Darstellung der französischen Presse, nach der die neue Rechnung der Alliierten das letzte Wort darstellt, den Tatsachen, dann kann man der Konferenz eines mit Bestimmtheit Voraussagen: ein rasches Ende! Ob die Mitteilungen der Franzose» aber wahr si»d, ist schwer zu sagen. Jnteressanterweise glaubt der „Matin" »och mit einem „alleräußersten Zugeständnis' aufwarteu zu können, er spricht von der Möglichkeit einer Herabsetzung der ersten Jahresraten auf 1,8 Milliarde» Mark und vo» Rabatten. Deutschland wünscht den Sachverständigen nach wie vor einen vollen Erfolg. Nur soll man nicht mehr von uns verlangen, als wir tatsächlich zahlen können; im anderen Falle ist ein deutsches Nein un vermeidlich! Kommt cs zu keiner Einigung, dann ist die Konferenz nicht daran gescheitert, daß Deutsch land es an Entgegenkommen hat fehlen lassen, wohl aber daran, daß die Gläubiger sich bis zur letzten Stunde selbst in den Haaren lagen, daß sie Wochen hindurch Zahlen nannten, über deren Höhe sie selbst erschraken, und daß sie schließlich ein Kompromiß ver einbarten, das weit über die deutsche Leistungsfähigkeit hinausgeht. Eine Erkenntnis ist übrigens während der Kon ferenz allen aufgedämmert, die nämlich, daß die Neber- weisung der deutschen Zahlungen an das Ausland schwieriger und schwieriger geworden ist. Geht man jetzt mit leeren Händen auseinander, dann mutz man iu Kürze erneut zusammenkomme«, weil die Dawes- Alarmglocke anfangeu wird zu schrillen, anzeigend, datz die Reparationszahlungen abgestoppt werden müssen. Der Bau der Zeppelin-Halle doch möglich? Wie bei einem Presseempsang im württembergi- schen Staatsministerium von Dr. Eckener und Staats rat Rau mitgetetlt wurde, sind die Aussichten auf einen Reichsbeitrag zum Bau der neuen Werfthall« für die Zeppeline noch nicht ganz geschwunden. Di« Finanzsachverständigen haben nämlich lediglich beschlos sen, an drei Positionen der Luftfahrt insgesamt 2V Millionen M. zu streichen. Ueber die Verteilung die ser Summe ist noch nicht das letzte Wort gesprochen. Zum Schluß unterstrich Dr. Eckener die Bedeutung des Luftschiffes für Deutschland. Trotzkis Einreise verweigert. Endgültiger Beschluß des Reichs kabinetts. — Die Gründe der Regierung. Das ReichSIabinett hat sich mit dem Einreise» gesnch des aus Rutzland ausgewiesenen früheren russi schen Führers Trotzki beschäftigt «nd nach eingehende, Prüfung aller Nnterlagen den Beschluß gefakt, dem Gesnch nicht ftattzngeben. Maßgebend für »le «ei giernng dürfte vor allem die Erwägung gewesen sein, die guten veziehnngen zu Rutzland durch die Rn» Wesenheit Trotzkis in Deutschland nicht der Gefahr einer Trübnng auszusetzen. Wie in Ergänzung dieser Meldung von zustän diger Stelle mitgeteilt wird, haben gefühlsmäßig« Gründe bei der Entscheidung des Kabinetts keine Rolli gespielt. Im übrigen weist man noch darauf hin, , oaß Trotzki von der türkischen Regierung eine Auf» enthaltsgenehmiaung erhalten hat und er sich dort durchaus wohl fühle. Trotzki ist von der Entscheidung des Reichskabinetts umgehend unterrichtet worden. * Trotzki, der im 49. Lebensjahre steht, gehörte in den früheren Jahren mit Lenin zu den maßgebendsten Führern der Bolschewisten. Bor dem Kriege hat e, in Wort und Schrift den Zarismus untergraben, und im November 1917 führte er den Bolschewismus in Rußland zum Siege. In den späteren Jahren er- reichte Trotzki, der Schöpfer der Roten Armee, den Gipfel der Macht. Nach dem Tode Lenins geriet i Trotzki, der fanatischste Prediger der Weltrevolu» ! tion, in immer schärferen Gegensatz zu der herrschen- ! den Richtung im Kreml. In seinem Kampf gegen ! Stalin wandte Trotzki dann die gleiche Methode an, die er vor dem Kriege mit so vielem Erfolge gegen i den Zarismus befolgt hatte: die Unterwühlung des : herrschenden Systems durch Zellenbildung. Und Sta- ! lin wiederum tot das gleiche, was die Zaristen so ! meisterhaft verstanden hatten, er schickte Trotzki nach ! Sibirien und dann in das Ausland. Deutsche Abrüstungsdenkschrist. Zu dem Wiederbeginn der AbrüstungSverhandlnngen in Genf am Montag. Am Montag tritt in Genf die vorbereitende Ab- rüstungskommission zu einer neuen Sitzung zusammen. Der Führer der deutschen Delegation, Gras Bernstorff, hat an den Präsidenten der Kommission-eine Denk schrift gerichtet, in der weitgehende sachliche Borschläge enthalten sind. Graf Bernstorff behält sich ferner ausdrücklich vor, im Berlaufe der Tagung Anregun gen zu stellen, die zweifellos der grundsätzlichen Seite der Genfer Abrüstungsmethode und dem weiteren Ar beitsplan der Kommission gelten werden. Der wichtigste Teil der Bemerkungen des Gra fen Bernstorff bezieht sich auf die bedeutungsvolle Frage der Einbeziehung der ausgebildeten Reserven i» ein allgemeines Rüstnngsabkommen. Die deutsche Denkschrift steht auf dem bisherigen deutschen Stand punkt, datz die ausgebildeten Reserven in ei» künf tiges System der allgemeinen Abrüstung einbezogen werden müßten und will diesen Gedanken der ver- wirNtchnng näherführeu, indem sie auf der Grundlage der von der militärischen Unterkommission geleisteten Vorarbeiten einen Positiven Vorschlag für die Ab- rüstnng der ausgebildeten Reservisten macht. Hindenburgs Gesundheitszustand. Kein Anlatz zu Besorgnissen. Bon zuständiger Seite wird mitgetetlt: Reichs präsident v. Hindenburg, über dessen Gesundheitszu stand in den letzten Tagen mancherlei beunruhigende Gerüchte umliefen, befindet sich auf dem Wege der völ ligen Wiederherstellung von den Folgen einer ernsteren Grippeerkrankung. Von zuständiger Stelle wird erklärt, daß zu Besorgnissen kein Anlaß vorhan den sei, da es dem Reichspräsidenten andauernd besser gehe. Koch-Wefers letzte Amtshandlung. Einführung t»«s neuen Reichsgerichtspräsiventen Dr. Bumke. Als lehre Amtshandlung wird der aus dem Kabinett ausscheidende Reichsminister der Justiz, Koch-Weser, am heutigen Sonnabend den neuen Präsidenten des Reichs» gerichts, Dr. Bumke, in das Amt elnführen. Mit Rücksicht darauf erfolgt die offizielle Ernennung der neuen Reichsminister durch den Reichspräsidenten erst am heuti gen Sonnabend. In der letzten Sitzung des bisherigen Reichskabinetts dankte Reichskanzler Müller dem ausscheidenden Reichs minister der Justiz, Koch-Weser, für sein« umfassende und wertvolle Mitarbeit im Reichskabmett, sowie für sein ver dienstvolles Wirken zum Besten des deutschen Rechtslebens. Der Reichskanzler gab der Erwartung Ausdruck, daß das reiche Können des Reichsministers Koth-Weser unserem Vater lande noch für lange Zeit erhalten bleibe. Wie verlautet, wird Reichsjustizminister Koch-Weser auch nach seinem Ausscheiden aus dem Reichsjustizministerium weiterhin in dem Reichsreformausschuß der Länderkonferenz führend tätig sein. Der Beidenflether Prozeß. Die Zeugenvernehmung. Bekanntlich soll der Angeklagte Hansen der An stifter zu den strafbaren Handlungen in Beidenfleth gewesen sein. Der Gemeindevorsteher Kracht-Pö schendorf erklärte, Hansen habe sich nur geäußert, er wolle 200—300 Bauern aufmarschieren lassen, die bekunden könnten, daß er, Hansen, die Steuern nicht zahlen könne. Der Führer der Landvolkbcwegung, Hamkens- Tetcnböll, der über die Vorgänge im Kaffeehaus Mohr vernommen wurde, sagte aus, in dieser Versamm . lung habe man mit großer Erregung darüber gespro chen, die Negierung ließe die Landwirtschaft zugrunde Hamkens schilderte van» sehr ausführlich, wie L„ ver Versammlung Vie Unzufriedenheit mit den wir kungslose» Protcstvrrsammlnnge» zum Ausdruck se-