Volltext Seite (XML)
Bettage zur Weitzeriy-Jettung 95.' Jahrgang Nr. 89 Mittwoch, am 17. April 1929 Chronik -es Tages. — Das neugebildete Reichskabinett hielt am DienSta, seine erste Kabinettssitzung ab. — Die Vorlage über die Einbeziehung der freien Be rufe in die Gewerbesteuer kam im Preußischen Landtag zu Fall, da die notwendig« Zweidrittelmehrheit nicht er reicht wurde. — Die Vorbereitende Abrüstungskömmission des Völ kerbundes behandelt heute die russtichen Vorschläge. - — In den oberen Lagen des Riesengebirges herrsche noch völliger Winter. Allerdings ist die Skifähre meist ver harscht, und auch die Schlittenbahnen, die immer iroch bit Brückenberg unh oberhalb Sclsteiberhau hinabreichen, sini zumeist sehe glatt. — Im Beidenflether Bauernprozeß beantragte dei Staatsanwalt insgesamt 350 Monate Gefängnis. — Als Mörder der achtjährigen Rosa Ohliger in Düs. seldorf wurde ein 21 jähriger schwachsinniger Analphabei ermittelt. — In Kowno hat die Pferdebahn, wohl die letzte i» einer europäischen Hauptstadt, ihren Betrieb eingestellt. Eine Lüge feiert Jubiläum Vom Deutschen Reichskriegerbund „Kyffhäuser' wird uns geschrieben: Nachdem bereits zu Beginn des Februar von dei Mehrzahl der 32 000 im „Kyffhäuserbund" zusam mengeschlossenen deutschen Kriegervereine Millionen ehemaliger Soldaten gegen die Verleumdung und Be schuldigung, daß das deutsche Volk den Krieg ver ursacht habe, in durchweg außerordentlich stark be suchten Kundgebungen protestiert worden ist, Werder im Laufe dieser und der nächsten Wochen die Krieger vereine im ganzen Reiche den Kampf gegen die Kriegs schuld- und damit zugleich auch die Kriegsgreuellüge, sortsetzen und verstärken. Die Millionenorganisation des Kyffhäuserbundei sieht in dem Kampf zur Beseitigung der Krieasschuld- lüge und zur Wiederherstellung der Ehre nicht nui unseres ganzen Volkes und der noch lebenden ehe maligen Kriegsteilnehmer, sondern auch vor allem des Andenkens an unsere gefallenen Helden eine der gro ßen gemeinsamen vaterländischen Aufgaben, an derer Lösung zu helfen sie durchaus berufen ist. Die Behauptung, daß Deutschland vorsätzlich unt bewußt den Weltkrieg entfesselt habe, richtet sich gegen das ganze deutsche Volk, daher gibt es in dieser Frag« keine sozialen Unterschiede, keine Gegensätze des par teipolitischen und des Glaubensbekenntnisses, sondern nur eine einfache und selbstverständliche vaterländisch« Pflicht. Dies geht aus vielen Aussprüchen von füh renden Männern aller Volksschichten hervor, die kein« Gelegenheit vorübergehen ließen, sich gegen den ver leumderischen Artikel 231 des Versailler Diktates, des- sen Unterschrift sich am 28. Juni 19I9 zum 10. Mal« jährt, auszusprechen. Wie die beiden Reichspräsiden, ten Ebert und von Hindenburg, so haben di« verschiedensten Reichskabinette wiederholt zum Ausdruö gebracht, daß Deutschland die Schuld am Weltkrieg« nicht trage und daß es den Artikel 231 nicht anerken nen könne. Aber auch Vertreter aller politischen Parteien haben sich öffentlich vom Artikel 231 losgesagt, si prägte der sozialdemokratische ehemalige preußisch« Staatsminister Dr. Südekum diese Worte: „Di« Frage nach der Schuld am Weltkriege ist für Deutsch, land schlechthin die Lebensfrage. Auf die Behauptung der Alleinschuld Deutschlands baut sich das ganz« System der Vergewaltigungen und Versklavungen un seres Volkes auf. Wer das deutsche Volk vor dem Untergang bewahren will, muß nach seinen Kräften daran Mitarbeiten, daß die grauenvolle Lüge des Ver- sailler Vertrages zerstört wird, damit die Schlußfolge rungen aus ihr enllallen. Das erfordert a j die Ehre der Nation. Kein Deutscher kann seinen Kin dern in die Augen sehen, der seine Pflicht ver- «achlässigt." Der jetzige Reichsinnenminister Karl Severing erklärte erst kürzlich in einem Vorwort zu einer Bro- schüre „Die offene Wunde": „Die geschichtliche Wahr heit läßt sich nicht durch die Artikel eines Friedens vertrages vergewaltigen." Der deutschnationale Neichs- tagsabgeordnete Staatsminister Dr. Wallraf er klärte im Preußischen Landtag: „Wir wenden uns gegen den Frieden von Versailles, dessen Fundament die Behauptung von der Schuld Deutschlands am Kriege ist. Aus diesem Boden könnten wir zusammen gehen und den Partethader einmal ruhen lassen." Der Zentrumsabgeordnete Reichskanzler a. D. Dr. Marx sagte: „Wir müssen den Kamps gegen die Schuldlüge führen zur Wahrung der Ehre unseres Volkes, im Interesse der geschichtlichen Wahrheit und nicht zu letzt im Interesse der Versöhnung der Völker, der das erzwungene Schuldbekenntnis hindernd im Wege steht." Auch der demokratische Reichstags Abgeordnete Reichs- Minister a. D. Dr. Dernburg hat einmal erklärt: „Solange es einen Artikel 231 gibt, wird man in Deutschland nicht zur Ruhe kommen." Der Führer der Deutschen Volkspartei, Reichsaußenminister Dr. Stresemann, führte in einer Rede in Hagen in Westfalen aus: „Wenn man aus klar erkennbaren Gründen in Frankreich immer wieder den Versuch macht, Deutschland allein die Schuld am Weltkriege aufzubürden, so weise ich diese Krtegsschuldlüge mit aller Entschiedenheit zurück." Die Kundgebungen des Kyffhäuserbundes lassen eine verstärkte und allgemeine Teilnahme auch der noch außerhalb ihrer engeren Kreise stehenden Bevöl kerung erwarten. Mit Recht fühlen sich die ehemali- ' gen Soldaten der großen Einigungskriege und des > Weltkrieges berufen, in ast überlieferter Pflichterfül- i lung dazu beizutragen, daß in diesem JubiläumSjähre von Versailles traurigem Andenken endlich die Volks gemeinschaft geschaffen wird, die allein den ge- wünschten Enderfolg der für unsere Gegenwart wie Zukunft gleich wichtigen Aktion verbürgt. Gegen die Abrüstungs-Sabotage Graf Bernstorff protestiert gegen Loudon. — Beratung der russischen Borschläge. — Ein türkischer Abrüstung«, entwnrf. — Genf, den 17. Apru. Die sechste vorbereitende Abrüstungskonferenz hält heute ihre dritte Sitzung ab. Auf der Tagesordnung steht die Beratung der russischen Vorschläge zur Durchführung der Abrüstung in Etappen. Ein neuer Abrüstungsentwurf ist vom türkischen Außenminister vorgelegt worden. Die Einzelheiten dieses Entwurfs sind zur Stunde noch nicht bekannt; die Türken ver sichern jedoch, durch ihren Entwurf seien „alle Schwie rigkeiten" zu beheben. Au der Debatte über de» Arbeitsplan der Kom mission, die gestern begann, betonte der Führer der j deutschen Delegation, Graf Bernstorff, er stehe in > krassem Gegensatz zu den «nffassnngen des Präsiden- , ten Loudon. Das Arbeitsprogramm der Kommission, wie es London entworfen habe, Lei mit der Entschlie ßung vom März 1S28 unvereinbar. Die so lange verschleppte zweite Lesung des Abrüstungsentwurfs müsse jetzt endlich durchgesührt werde». Graf Bernstorff erklärte dann noch, er habe volles Verständnis für die Notwendigkeit direkter «erhand- lnngen zwischen de» Regierungen. Aber »ach deutscher Auffassung sei die Abrüstungskommissio» lediglich ge schaffen worden, nm die allgemeine Abrüstungskon ferenz vorzubereiten und deren Einberufung zu ermög lichen. Keinesfalls dürfe die Konferenz von den Ber- handlungen der einzelnen Regierungen abhängig ge- macht werden. Die Kommission dürfe Genf nicht verlassen, ohne daß für die Beschränkung der effek tiven Druppenbestände zur See und zu Lande sowie für die Beschränkung des gesamten Kriegsmaterials ein« endgültige Lösung gefunden sei. Der Führer der deutschen Delegation schloß seine Rede mit der Bitte, Klarheit darüber zu schaffen, ob die Kommission zu ihren Beschlüssen stebe, ober ob sie diese Beschlüsse umwersen wolle. Geschehe letzteres — und das ist der Fall — dann erleide die Kommis sion einen Verlust an Ansehen, und das Werk der Abrüstung werde ernsthast gefährdet. London berichtigt seine Eröffnungsrede. Im Hinblick aus die Erklärungen des Grafen Bernstorfs sah sich Präsident Loudon gezwungen, seine Erklärungen in der Eröffnungsrede, die zweite Lesung des Konventionsentwurfes werde diesmal nicht statt finden können, zurückzuziehen und seinem Arbeits- Programm eine neue Auslegung zu geben, indem et beschwichtigend betonte, die einzelnen Punkte seines Programms bedeuteten „praktisch" die vom Grafen Bernstorff geforderte zweite Lesung des Konventions- entwurses. Gesandter Gibson, der Vertreter der Vereinig ten Staaten, teilte die Bedenken Bernstorffs, betont« seine Bereitwilligkeit zu praktischer Arbeit, erklärte sich dann aber mit den Vorschlägen Loudons einver standen. Einen temperamentvollen Vorstoß unternahm der stellvertretende russische Außenkommissar Lit- winow, der die unfruchtbare Arbeit der Abrüstungs- techniker scharf kritisierte «uv darauf hinwies, das durch di« teilweise Einigung zwischen England unk Frankreich nene schwere Gegensätze dieser Mächte zr de« Bereinigten Staate,» entstanden seien. Der rus sische Entwurf zeige einen gangbaren Weg; inhaltlick stimmten die russischen Vorschläge mit der Denk schrift der deutschen Regierung weitgehend überein * Nach der Beratung der russischen Anträge Wirt sich die Kommission mit den deutschen Forderunger auf die Veröffentlichung der Rüstungsziffern und mi einem Bericht des Sicherheitsausschusses beschäftigen Neuer Zahlenplan erforderlich. Die eigentliche Konferenz beginnt erst jetzt. — Die Begrenztheit der deutsch«« Leistungsfähigkeit das Grundthema. — Paris, den 16. April. Die eigentliche Reparationskonferenz beginnt erst jetzt. Bisher hat man sich nur Vorpostengefechte ge liefert und Kampfforderungen überreicht. Die deutsche Delegation hat dabei eine fast passive Rolle gespielt, i Dann kamen die letzten Forderungen. Die deutschen I Sachverständigen, zum erstenmal aktiv, erklärten ihr unabänderliches „Unannehmbar", und da auch keiner der Gläubiger ein Interesse daran hat, die Dinge auf die Spitze zu treiben, einigte man sich in der Vollkonferenz, daß noch niemand etwas Endgültiges gesagt und gefordert habe. Damit ist den deutschen Sachverständigen die Mög lichkeit zu weiteren Erörterungen gegeben. Dr. Schacht hat einige Fragen gestellt, und man hat ihm darauf hin heute eine Liste voller Zahlen überreicht. Sie ent hält alles, was die Gläubigerstaaten glauben beanspru chen zu müssen und woraus sie verzichten wollen. Obgleich von deutscher Seite noch kein« Gegenrechnung, ausgestellt wurde, ist doch bereits klar, daß die söge- ' nannten «erzichtleistnngen keinesfalls ausreichen «ub daß sie der deutschen Leistungsfähigkeit überhaupt nicht Rechnung tragen. Zwischen dem, was von Deutschland gefordert wird, und de« was geboten wer den kann, ist eine außerordentlich große Spanne. Bis heute hat die Konferenz arbeiten und dis kutieren müssen, um zu dieser Einsicht zu kommt«. Aber es scheint, daß diese Einsicht nun da ist; und das ist die einzig gute Wirkung der überschrauvten glücklicherweise bald in der Versenkung verschwun denen Forderung. Er herrscht jetzt Klarheit, daß man eine neue Zahlengrundlage suchen mutz. Wenn nach dem deutschen Unannehmbar die Verhandlungen in einer ruhigeren Atmosphäre fortgesetzt werden, und sogar nach einem offenkundigen Rückzug der alliierten Gläubiger, die nicht an ihren Ziffern sest- halten, dann ist das ein willkommener Fortschritt. Er berechtigt zwar noch keineswegs zu einem OptimiS- mus, denn man rechnet in Paris damit, daß noch langwierige Verhandlungen notwendig sind. Ab«» man ist endlich bei dem Grundthema angelangt: de» Begrenztheit der deutschen Leistungsfähigkeit. Dar über wird mau sich in den nächsten Dagen unter» halten. Eine mißverstandene Rede Severings. Die Reparationsfrage überhaupt nicht erwähnt. — Eine amtliche Richtigstellung. Zeitungsmeldungen zufolge soll Reichsinnenmini. ster Severing in Kiel in einer Rede davon gesprochen haben, eine Ermäßigung der ReparationSlasten in Höhe von 500 Millionen Mark würde schon einen Fortschritt darstellen. Wie amtlich »nitgeteilt wird, ist diese Aeußerung unrichtig. ReichSinnenministe, Severing hat die Reparationsfrage überhaupt nicht be rührt, sich vielmehr lediglich mit Fragen der Innen politik besaßt und dabei ausaeführt, wenn durch di« Fortführung der inneren ErsparniSaktion Erspar- nisse von 500 Millionen Mark erzielt werden könnten, würde das den Haushalt entlasten, die Kaufkraft er- höhen und die Volkswirtschaft stärken. Dr. Rintelen Nachfolger Seipels? Die Christlich-Soziale Partei Deutsch-OeftanxichS hielt eine Beratung ab, nach der es festzustehen scheint, daß si» den Landeshauptmann von Steiermark, Dr. v. Rintelen, als Bundeskanzler in Vorschlag bringen wird. Dr. Rintekev ist wohl auch dem Landbund und den Grotzdeutschen genehm und würde bei der sozialdemokratischen Opposition auf ge ringen Widerstand stoßen. Rundschau im Auslande. r In Reval finden deutsch-estnische Verhandlungen über die Entschädigung der in Estland enteigneten deutschen Grundbesitzer statt. „ * Der Rechtsausschuß des amerikanischen Senats ver handelte am Mittwoch darüber, ob Schatzsekretär Mellon rechtmäßig im Amte ist, oder ob seine Uebernahm« von dem früheren Kabinett aeaen die geltenden Bestimmungen verstößt. Deutschlands ««günstige Wirtschaftslage. Das Urteil des Direktors des amerikanischen Hau» delSamteS. Der Direktor des amerikanischen Handelsamtes, Julius Klein, der von seiner Eurovaretse nach New Bork zurückgekehrt ist, bezeichnet in einem Artikel Deutschlands Wirtschaftslage als ausgesprochen un günstig. England und Frankreich, so meint Klein sehr richtig, seien weit besser daran, überdies käme diesen Mächten bei ihrer Wiederausbauarbeit der Be sitz von Kolonien zugute, deren Kaufkraft sie mit allen Mitteln förderten. Deutschland dagegen leide unter der Streikbewegung, während es ohnehin be reits zwei Millionen Arbeitslose habe. Politische Rundschau. — Berlin, den 17. April 1S2S. — Die vor mehreren Wochen vom Reich bei einer Bankengruppe aufgenommenen Kredite in Höhe von 150 Millionen Mark sind am Dienstag aus Steuereingängen zurückgezahlt worden. — Das Kasseler Schöffengericht verurteilte den Dekan Lehr-Gladenbach und den Redakteur Schwarz wegen Be schimpfung der Republik zu je drei Monaten Gefängnis, unter Strafaussetzung bei Zahlung von 500 Mark. * r: Der Reichspräsident wieder gesund. Der Reichspräsident ist jetzt gesundheitlich vollkommen wie derhergestellt und nimmt von dieser Woche an wie der die normalen Empfänge und Vorträge entgegen. :: Die neue Regierung in Mecklenburg-Strelitz, über die nunmehr eine Einigung erzielt wur!de, setzt sich aus Sozialdemokraten, Demokraten, Nollspartei- lern, Volksrechtspartei, Bauernbund und der Partei Handwerk und Gewerbe zusammen. Den StaatS- minister stellen die Sozialdemokraten, die übrigen Par teien sind dürch zwei Parlamentarische Ministerial direktoren vertreten. u Das Reichskablnett hielt unter dem Vorsitz des Reichskanzlers Müller seine erste Sitzung nach der Umbildung ab und erledigte laufende Angelegen- heilen. Minister Stegerwald, der erstmals einem Retchskabinett angehört, wurde vereidigt. :: Im Strafrechtsausschuß des Reichstags stellte sich der neue Retchsjusttzmintster v. Guörard vor, der seinem Vorgänger Koch-Weser nachrühmte, daß seine kraftvolle Initiative die Arbeit am Strafgesetz, entwurf wesentlich gefördert habe.