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Beilage zur Weitzeritz-Zeitung Nr. 83 Mittwoch, am 10. April 1929 85. Jahrgang Komödie -es Rechenstifts. — Paris, den 10. April. Am Dienstag wurden es fünf Jahre, daß eine Kommission erlesener Sachverständiger der Weltwirt schaft das Abkommen fertigstellte, dessen Erfüllung sich im Haushalt der Arbeitnehmerfamilie ebenso auswirkte, wie in den Abschlüssen der Wirtschaftskon zerne, der Gewerbezweige und der landwirtschaftlichen Betriebe: den Dawes-Plan. Damals, 1924, er leichterte der Dawesplan unsere Lage; er gewährte uns eine Atempause und befreite uns von dem Alpdruck der Sanktionen, die, wie z. B. der Ruhreinbruch, uns Not und Elend brachten. Heute jedoch ist uns auch der Dawesplan zu einer Last geworden, zu einer Bürde, deren Schwere uns am Fortkommen hindert. Der Reparationsagent Par ker Gilbert mag ein ehrenwerter Mann sein, die Ein richtung eines Reparations-Kontroll-Systems ist eines Kulturvolkes unwürdig! Darüber hinaus stellt der Dawesplan aber auch materiell eine Last für uns dar. Die Sachverständigen haben 1924 die Kraft der deut schen Wirtschaft überschätzt, sie haben uns mit 2,5 Milliarden M. jährlich Zahlungen zugemutet, die wir aus eigener Kraft und auf die Dauer nicht leisten können! Jetzt handelt es sich darum, bei der Festsetzung einer endgültigen Tributsumme der deutschen Leistungs fähigkeit mehr als bisher Rechnung zu tragen. Wir brauchen eine neue Atempause von zehn oder fünfzehn Jahren, damit wir wieder Kapital anhäufen können, und nach dem Ablauf der Atempause werden wir gleichfalls kaum in der Lage sein, Zahlungen in Höhe der jetzigen Raten zu leisten. Ist unter diesen Verhältnissen noch mit einem er folgreichen Verlauf der Sachverständigen-Konferenz in Paris zu rechnen? Die Antwort auf diese Frage werden die nächsten Tage erbringen. Vorerst ist es den Sachverständigen noch nicht gelungen, einen Aus weg aus der Krise zu finden. Am Montag und Diens tag verhandelten die Delegierten der Gläubigermächte unter einander, also ohne die Hinzuziehung der deut schen Sachverständigen. Es ist anzunehmen, daß diese Sonderbesprechungen auch in den nächsten Tagen fort gesetzt werden. Zu Abstrichen ist man in Paris heute grund sätzlich bereit! Man empfindet es als eine Komödie, daß jede Delegation auf ihrer Wunschliste beharrte, ohne sich um den Nachbarn zu kümmern, und daß so eine Endsumme herauskommen konnte, über deren Höhe selbst die Gläubiger Entsetzen bekamen. Soweit über den Gang der Verhandlungen etwas in Erfahrung zu bringen ist, scheint es-, als hätten die Gläubiger grundsätzlich auch bereits anerkannt, daß Jahreszah lungen in Höhe der jetzt von Deutschland aufzubrin genden 2,5 Milliarden Mark, für die Zukunft niemals zu erwarten sind! Ein Teil der französischen Presse macht für die Schwierigkeiten neuerdings die Amerikaner verant- wörtlich. Der „Petit Parisien" meint, wenn nun einmal jeder Opfer bringen soll, warum dann nicht über die Kürzung der alliierten Schuldenzahlungen an Amerika verhandelt werden dürfe. Aehnliche Angriffe finden sich auch in anderen Blättern. Selbstverständlich wird eine Ermäßigung der Kriegsschulden Englands und Frankreichs an Amerika vorteilhafte Wirkungen für d e Lösung der Reparationsfrage haben, nur sollte man > Paris nicht übersehen, daß eine wesentliche Herab,.ug der deutschen Tributzahlungen auch bei einer unveränderten Beibehaltung der interalliierten Schuldenbeträge möglich ist. Die Komödie des Rechenstifts, die sich jetzt in Pa ris abspielt, ist übrigens nicht die einzige in der Tra gödie der Reparationen. Am Freitag werden es zehn Jahre, daß der damalige französische Finanzminister Klotz in Versailles den Entwurf der wirtschaftlichen Friedensbedingungen überreichte und damit den Re parationsstreit ins Leben rief. Als Leitgedanken für seine „Berechnungen" schien sich Klotz den Satz gewählt zu haben, den die Franzosen so gerne hörten: „der Deutsche zahlt alles. Neuneinehalbe Milliarde Goldmark sollten wir damals Jahr für Jahr aus bringen! Bon diesem Unsinn ist man heute abgekommen. Man fordert -war auch jetzt noch viel zu viel, kommt andererseits aber vernünftigeren Zahlen näher und Näher. Und Herr Klotz ist untergetaucht und vergessen. Chronik des Tages. — Reichspräsident v. Hindenburg empfing den Besuch , des Königs Boris von Bulgarien. — Reichskanzler Müller hatte im Anschluß an die Be ratungen der Fraktionen eine neue Besprechung mit den Parteiführern anberaumt. — Der bekannte Turnierreiter Oberleutnant Schmalz, . der im New Uorker Reitturnier seiner Zeit so erfolgreich i abschnitt, ist in Münster schwer gestürzt und hat sich einen ! Schulterbruch zugezogen. ' — Im Ständesaal des Rathauses von Itzehoe begann der Prozeß gegen die wegen der Beidenflether Zwischenfälle ; angeklagten 57 Landwirte. — Zwischen Paris und London ist ein neuer Nacht- i Postflugmenst eingerichtet worden. — Durch orkanartige Stürme ist der größte Teil der i Hafenanlagen von Como zerstört worden. Der Leuchtturm wurde von den Fluten weggerissen. Menschenleben sind nicht zu beklagen. — Die Hitzewelle an der amerikanischen Atlantikküste hat bisher fünf Todesopfer gefordert. — Bei einem Großfeuer in einem Vorort von Schang hai sollen übex 300 Menschen in den Flammen umge-- kommen sein. er sitzt wegen Betrugs und Wechselfälschungen in Un tersuchungshaft und hat nur noch eine Sorge, nämlich die, als geisteskrank „anerkannt" zu werden! . Wenn man sich in den nächsten Tagen auch von dem Geist des ehemaligen Finanzministers Klotz frei macht und die Leistungsfähigkeit Deutschlands auch Praktisch als Grundlage aller Reparationserörterungen anerkennt, dann ist die Reparationskonferenz auf gu tem Wege. Aber bis dahin scheint es noch gute Weile zu haben; vielleicht wird es Herbst, bis das Repara- ' tionSproblem endgültig gelöst ist. , Zustimmung zum Sparprogramm j Das Ergebnis der Fraktionsberatnngeu. — Neue Be sprechungen beim Kanzler. — Die Verteilung der Abstriche. > — Berlin, den 10. April. Die an, der Regierungsumbildung interessierten z Fraktionen traten am Dienstag im Reichstag zu einer Sitzung zusammen, um sich mit dem Ergebnis der Ver einbarungen ihrer Finanzsachverständigen zu beschäf- . tlgen. Als erste stimmte die Fraktion der Deutschen , Demokratischen Partei dem Sparprogramm , unter Zurückstellung verschiedener Bedenken grundsätz lich zu. Der Fraktwnsvorstand wurde beauftragt, auf der Grundlage des Sparprogramms die Verhandlun- gen über die Bildung einer Regierung der Großen Koalition zu führen. Die übrigen Fraktionen nahmen erst im Laufe ! des Nachmittags zu dem Streichungsprogramm und den > politischen Folgen der Einigung über den Etat Stel- i lung. Die Reichstagsfraktiön der Bayerischen Botts- ' Partei, deren Forderung aus Streichung der Bierstcuer- erhöhung volle Berücksichtigung gefunden hatte, gab ihre Entscheidung am späten Nachmittag bekannt. Zu letzt träte» die Fraktionen der Deutschen Bolkspartei, des Zentrums uud der Sozialdemokraten zusammen. ? Im Anschluß an die Entscheidung der Frak- ? tionen fand ein neuer Empfang der Parteiführer dnrch den Reichskanzler statt. ! Wie im Reichstage mitgeteilt wurde, setzen sich ! die Abstriche an den einzelnen Etatskapiteln wie folgt zusammen: Es sollen eingespart werden, beim Haus halt des Reichstags 500000 Mark, bei der Reichs kanzlei 300 000 Mark, beim Reichswirtschaftsministe- j rium rund 2,9 Mill. M., beim Auswärtigen Amt 3,1 Millionen M., beim Ministerium für die besetzten Gebiete 4 Millionen M., beim Reichsinnenministe rium 4,1 Mill. M., beim Kriegslastenetat 4,5 Mill. Mark, bei der allgemeinen Finanzverwaltung und beim Reichsernährungsministerium je 5,5 Mill. M., beim Reichsfinanzmimsterium rund 6,7 Mill. M., bei den Sachausgaben insgesamt 11 Mill. M., beim Reichs wehrministerium 27,4 Mill. M., bei den Ausgaben für Versorgungs- und Ruhegehälter 25 Mill. M., beim Reichsarbeitsministerium 36,1 Mill. M., beim Reichs- verkehrsministerium 36,3 Mill. M., insgesamt also 179 Millionen Mark. * Die Folgen der Etatskürzungen. Die neue Lustschiffhalle und der neue Zeppelin könne» vorerst nicht gebaut werden. Die günstigen Folgen der Kürzung des Reichs haushaltsplanes bestehen darin, daß dem deutschen Volke neue Steuern erspart bleiben; ungünstige Folgen hat das Streichungskompromiß insofern, als nun für einige begrüßenswerte Zwecke kein Geld mehr da ist. Insbesondere muß die Abteilung für Luftfahrt im Reichsverkehrsministerium schwer bluten, hat man ihren Etat doch um rund zwei Drittel gekürzt. Damit ist das Schicksal der Deutschen Versuchs anstalt für Lus >>'hrt, die am 1. Januar aus den bisher gemieteten Räume» in Johannisthal wieder her aus muß, völlig in Frage gestellt. Noch nachteiliger dürfte sich die Streichung der Beiträge zum Bau einer neuen Zeppelin Halle auswirken. Da in der jetzi gen Halle ein größeres Luftschiff nicht gebaut werden kann, wird die Streichung der Beiträge für die neu« Werfthalle auch eine Verzögerung in der Fertigstel- luna des ..L 2. 128" nach sich ziehen. Am. ärgsten wird aber die deutsche Luft-Hansa geschädigt, die statt der angeforderten 19 Mill. M. knapp 9,5 Mill. Mark erhalten soll. Ob Pie Einsparungen im Reichshaushalt aber auch tatsächlich alle diese nachteiligen Folgen habe» werden, ist jetzt noch keineswegs sicher. Es sind nämlich Bestrebungen im Gange, die a,lf die Auflegung einer vom Reich zu garantierende» Anleihe für die deutsche Luftfahrt abziclcn. Rcichstagspräsident Löbe hat die nächste Sitzung des Reichstags aus Dienstag, den 16. April, nach mittags 3 Uhr, anberaumt. Auf der Tagesordnung stehen verschiedene Abkommen mit fremden Staaten und andere kleine Vorlagen. Beratung der Scheidungsreform. De» Regierungsentwurf Berhandlungsgrundlage. — Anerkennung des Zerrüttungs-Prinzips? Der Rechtsausschuß des Reichstags nahm die An träge auf Reform der Ehescheidung in Angriff. Gegen die Stimmey der Deutschnationalen und unter Stimm enthaltung des Zentrums wurde der Entwurf der Reichsregierung als Grundlage der Verhandlungen an genommen. Der Entwurf der Regierung will die Ehe scheidung in Zukunft auch dann gestatten, wenn das eheliche Verhältnis zerrüttet ist oder einer der Ehe gatten von schwerer Geisteskrankheit betroffen wird. Dem Zerrüttungsprtnzip soll folgender Para graph Rechnung tragen: „Ein Ehegatte kann ferner auf Scheidung klagen, wen» einem anderen Grunde ein« so tiefe Zerrüttung des ehelichen Verhältnisses eingetreten ist, daß ihm die Fort-- setzung der Ehe nicht zugemutet werden kann. Das Klage- recht besteht nicht, wenn er selbst einen Scheidungsgrund gegeben hat oder andererseits die Zerrüttung der Ehe vor- worRn ist 'ei" schuldhaftes Verhalten herbeigeführt * Wiederbeginn der Arbeiten des Strafrechts-AnSschnsses. — Berlin, 10. April. Der StrafrechtsauSschüß! des Reichstags nahm seine Arbeiten nach den Oster ferien wieder auf. Der Vorsitzende, Dr. Kahl, verlass das Abschiedsschreiben des früheren Regierungsvertre ters und jetzigen Reichsgerichtspräsidenten Dr. Bumke und begrüßte den neuen Vertreter der Reichsregierung Ministerialdirektor Dr. Schäfer. * Der Landtag zum Fall Schulz. Der Rechtsausschuß des Preußischen Landtags be riet am Dienstag die Eingabe des Rechtsanwalts Prof« Dr. Grimm auf Begnadigung und Strafaufschub für; den aus den Femeprozessen bekannten Oberleutnant a. D. Paul Schulz. Der Eingabe waren zwei ein gehende Rechtsgutachten Dr. Grimms und des Prof« Dr. Krückmann aus Münster i. W. beigegeben. Dis Rechtsgutachten kamen zu dem Schluß, daß Schulz aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen unschuldig sei. König Boris bei Hindenburg. Staatssekretär Dr. Meißner erwidert den Besuch. König Boris von Bulgarien, der sich zur Zeitz privatim in Berlin aufhält, stattete dem Reichspräsi denten v. Hindenburg einen Besuch ab. Der König« der von seinem Adjutanten, Oberst Draganow, und dem bulgarischen Gesandten in Berlin, Dr. Popoff, begleitet, im Hause des Reichspräsidenten eintraf und von einem zahlreichen Publikum freundlich begrüßt wurde, verweilte in einer etwa dreiviertelstündigen Un terhaltung beim Reichspräsidenten. Da der Reichs präsident wegen seiner Rekonvaleszenz den Besuch per sönlich nicht erwidern konnte, gab Staatssekretär Dr« Meißner in der bulgarischen Gesandtschaft die Karts des Reichspräsidenten ab. Ostpreußens Kampf und Not. Präsident Hepp über Agrarprogramm und Ostpolitik« Bei einer Kundgebung der ostpreußischen Land wirte in Preußisch-Holland führte der Präsident deSl Reichslandbundes Abg. Hepp in einer Rede aus, Ostpreußen sei mehr denn je Deutschlands Schicksal. Durch den Knechtungsvertrag von Versailles sei Ost preußen in die Lage einer belagerten Festung gedrängtz worden. Der sogenannte Korridor lege sich um das! Land wie ein Zernierungsgürtel. Das deutsche Boltz gibt sich selbst auf, wenn es diesen Zustand anerkenne« Redner sprach sich da»» anerkennend über dis von der Reichsregierung in die Wege geleiteten Hilfs maßnahmen ans »nd behandelte dann das Agrarpro gramm, wobei er das Agrarprogramm als eine wirk same Maßnahme der Ostpolitik wertete. Die beste Abwehr gegen die polnischen Einbruchsversuche sei eine zielbewußte Agrarpolitik unter tatkräftiger Förderung der Siedlung. Rußland stellt Bedingungen., Rylow über die Beziehungen zu England. — vhnts diplomatische Beziehungen keine Geschäftsabschlüsse. Bei der Eröffnung der Tagung der Moskauers Sowjets führte der Leiter der russischen Politik, Rylow, aus, die augenblickliche politische Lage werde durch die Verschärfung des englisch-amerikanischen Gegen satzes gekennzeichnet. Auf das Verhältnis Rußlands zu England eiNb gehend, betonte Rykow, der Abbruch der diplomatischen Beziehungen Englands zu Rußland habe den Eng ländern keinen Nutzen gebracht. England habe da durch seine Stellung auf dem russischen Markt einge büßt. In dem Besuch einer englischen Wirtschasts- abordnung sei das erste Anzeichen für eine Neu orientierung Englands zu erblicken. Neber größeres Geschäftsabschlüsse könne die Sowjetregierung jedoch erst dan» verhandeln, wenn die diplomatischen Bezie hungen wieder aufgenommen worden seien. * Ostpreußen-Empfang in Moskau. Die Moskauer Handelskammer für Westeuropa ocranstaltete zu Ehren der in Rußland weilenden ost- preußischen Delegation einen Empfang. Der deutsche Botschafter Dr. v. Dircksen gab der Hoffnung Aus- druck, daß die Freundschaft zwischen beiden Ländern auch in Zukunft bestehen bleibe und sich vertiefe. Weitere Ansprachen hielten Oberprästdent Dr. Siehr und Oberbürgermeister Lohmeyer-Königsberg Politische Rundschau. — Berlin, den 1v. April 1S2S. - Am 17. April trifft ein Studienausschuß d« Hhgieneabtetlung des Völkerbundes in Köln ein; von Köln begibt sich der Ausschuß nach Nürnberg. — Der sächsische Kultusminister Dr - Meck feiert an, 11. April seinen 75. Geburtstag. - Daaung de» Partcivorstaudes ver Deutschna- tionalen »oNSpartei. Am Dienstag trat der Partei- Vorstand der Deutschnationalen Bolkspartei zu eine,