Volltext Seite (XML)
Bettage zur Weitzeritz-Zeilung Nr. 75 Sonnabend, am 30 März 1929 9S. Iahrvang Chronik des Tages. — Reichsautzenminister Dr. Stresemann hat seinen Ur- Mb beendet und ist von der Riviera kommend wieder in verlin eingetroffen. — Reichsbankpräsident Dr. Schacht will die Osterfeier-. läge in Paris verbringen. — Reichsgerichtspräsident Dr. Simons hat sein Amt »iedergelegt und sich vom Reichsgericht verabschiedet. — Die Berliner Mordkommission setzt Zweifel in die Wahrheit des Geständnisses des Grafen Christian Friedrich >u Stolberg-Wernigerode. — Ueber die Entstehungsursache des Brandes auf der ^Europa" teilt die Hamburger Polizeibehörde mit. daß die. kriminalpolizeilichen Nachforschungen keinerlei Anhaltspunkt« für eine vorsätzliche Brandstiftung ergeben haben. — Bei einer Razzia auf Wilddiebe wurden im west fälischen Sauerland« über 100 Personen festgenommen. 80 savon haben ein Geständnis abgelegt. Von Woche z« Woche. Randbemerkungen zur Zeitgeschichte. Die französische Presse hat sich redlich Mühe ge geben, uns den Osterhasen zu versalzen. Gelungen ist kS ihr nicht! Die Drohungen, die Sachverständigen müßten die Koffer packen, wenn Schacht weiterhin >,störrisch" bleibe und sich daraus versteife, die morali sche Berechtigung der alliierten Ansprüche zu bestrei ten, nimmt niemand ernst. Selbstverständlich ist uns der Ausgang der Pa riser Konferenz nicht gleichgültig. Scheitern die Sachverständigen mit ihrer Mission, dann wird darob zwar keine Katastrophe über Deutschland Herein orechen, wohl aber wird dieses Mißgeschick mannigfache Hemmungen im Gefolge haben. Nur haben die Gläu biger daran, daß es nicht zum Abbruch der Konferenz kommt, das gleiche Interesse wie wir. Die Franzosen sollen doch nicht vergessen, daß Parker Gilbert und die alliierten Regierungen es gewesen sind, die den Anstoß zur Wiederaufrollung der Reparationsfrage gegeben und ihre Gründe dazu gehabt haben. Sie woll ten damit dem Versagen des DaweSplanes zuvor- kommen. Die Differenz zwischen dem deutschen Angebot und den Forderungen der Gläubiger soll gegenwärtig im Endbetrag 10 Millarden Mark betragen, oder auf die Jahresrate umgerechnet, 400 Millionen Mark. Die Spannung scheint an sich nicht groß zu sein, und doch ist sie schwer zu beseitigen, weil eben hundert Mark mehr oder weniger manchmal über Existenzmöglichkeit oder Bankerott entscheiden. Unvermeidbar ist der Ban kerott aber, wenn wir auch nur etwas über die Höhe der deutschen Leistungsfähigkeit hinaus Zahlungsver sprechen abgeben. Und damit sind einem deutschen Entgegenkommen enge Grenzen gezogen. Für die Gläu- biger ist das Maß ihres Entgegenkommens jedoch letzten Endes nur eine Frage des guten Willens. Eine Einigung sollte deshalb nach Ostern mit Ach und Krach zu erzielen sein. Schließlich betrug die Differenz zwischen den von Deutschland als möglich angesehe nen Zahlungen und den alliierten Forderungen 1923 noch — 230 Milliarden Mark. Eine Ernüchterung ist also unzweifelhaft schon zu verzeichnen, nur ge nügt sie noch nicht. Abgesehen von den Großmächten haben auch die europäischen Kleinstaaten ihre Sorgen, davon ist selbst das kleine Ländchen Monaco mit seinen 25000 Seelen, seinen herrlichen Gärten und seinen Spiel höllen am Gestade des Mittelmeeres nicht ausgenom men. In das Regiment teilten sich bisher der Fürst Louis II., der Nationalrat aus 12 Mitgliedern und der Kommunalrat. Als der Nationalrat eine Lippe gegen das Kasino von Monte Carlo riskierte, das die „Mo- nacen" der Mühe des Steuerzahlens enthebt und ihnen sogar gratis Gas, Wasser und Elektrizität liefert, schickte der Fürst den Nationalrat nach Hause, ohne Neuwahlen auszuschreiben. Eine Weile sahen sich die Bewohner diese selbstherrliche Maßnahme des Fürsten ruhig an, dann begehrten sie aus und machten „Revo lution". In Stärke von 700 Mann zogen sie vor das Schloß, jagten dort die aufmarschierte Garde von 48 Mann in dis Flucht und erbeuteten zwei Geschütze, die allerdings wertlos waren, weil sie veralteten Modells und bereits vom Rost zerfressen waren. Immerhin mußte der Fürst eine Abordnung empfangen und bal- dige Neuwahlen ausschreiben. Damit war die Ruhe im Lande wiederhergestellt. Ernster ist die Gärung in Spanien. Nach den Artilleristen eröffneten nun auch noch die Studenten den Kampf gegen die Diktatur Primo de Riveras. Die Studenten waren kampflustig, weil Primo de Ri vera die geistlichen Hochschulen den staatlichen gleich gestellt hatte. Während aber die Studenten bei ihren Kampfmaßnahmen innerhalb der Grenzen des Bier- Ulks geblieben sind, hat Primo de Rivera scharf durch- degriffen und die Universität Madrid geschlossen. die Studenten gegen Primo de Rivera ge- Ampft haben, geht aus folgenden Beispielen hervor: Eine Abordnung der Studentenschaft begab sich zu Mimt Castallanos, der ehemaligen Braut des Dikta tors, und beglückwünschte sie, daß sie durch die Aus- kebung der Verlobung vor der Ehe mit dem Diktator bewahrt worden ist. Ganz besonders kampflustige Stu denten zogen mit einem Geschütz, dessen Lafette ein Handkarren bildete und dessen Rohr aus einer Ofen röhre bestand, vor das Kriegsministertum und „feuer- ten' dort unter wilden „Bum-Bum"-Rufen ihre Ka- none gegen das Ministerium ab. Andere Studenten Wieder vergnügten sich damit, Polizeibeamte mit lan- gen Nadeln -u kitzeln. Das ist Kleinkri^, wie er kleiner nicht sein kann. Und doch scheint Primo de Rivera jetzt den Kampf gegen die wachsende Opposition satt zu haben und an seinen Rücktritt zu denken. Harle Kämpfe i« Parts. Der Streit um die Ziffern. — Austausch von Denk schriften? — Paris droht- mit der RäumungS-Ver- ! schleppnng. Zu Beginn der letzten Plenarkonferenz der Sach verständigen vor den Osterferien machte sich in Paris eine krisenhafte Spannung bemerkbar. Die franzö sische Presse ist voll von Gerüchten. Dem „Matin" zufolge haben sich die Delegierten, „fast in Wut ' geratend", einen Augenblick lang sogar gefragt, - ob es nicht das beste sei, dem Spiel mit Zahlen kurzer hand ein Ende zu machen. Aehnlich äußert sich der „Petit Parisien". Seiner Stellungnahme zufolge, ist der Augenblick gekommen, in dem die Deutschen ent weder ihr „äußerstes Angebot" machen, oder aber die Verantwortung für den Abbruch der Konferenz über nehmen müßten. Das Trommelfeuer der französischen Presse ist nicht geeignet, den Sachverständigen ihre Arbeit zu erleichtern! Daran, durch solche Auslassungen erhöhte deutsche Leistungen heranspressen zu können, scheinen übrigens die französischen Plätter selbst nicht zu glau ben. Der „Petit Parisien" bemüht sich denn anch, seiner Stellungnahme noch dadurch Gewicht zU ver schaffen, daß er anssührt, Frankreich könne sich durch aus mit der Aufrechterhaltung des DaweSplanes ein verstanden erklären. Die Endlösung könne man hin ausschiebe», allerdiugs würde sich damit auch die Be setzung des Rhcinlaudes automatisch verlängern. Will der „Petit Parisien" damit etwa sagen, daß Frankreich sich bet einer Vertagung der Endlösung auch über die bisherigen Räumungsfristen hinweg setzen kann? Wir hoffen es nicht, denn schließlich sind die RäumungSfrtsten im Versailler Vertrag ge regelt, so daß eins Vertagung der Räumung des Rheinlandes über die festgesetzten — spätesten — Fri sten hinaus gegen Gesetz und Recht verstoßen würde! Meldungen der französischen Presse zufolge haben sich die Führer der Gläubigerdelegationen an einem der letzten Tage bei dem Borsitzenden der Reparations- Konferenz, Owen Young, eingefnnden, um zu der „re nitenten" Haltung der deutschen Delegation Stellung zu nehmen. Es soll vollkommenes Einverständnis dar über erzielt worden sein, daß mau von Deutschland außer der Deckung der interalliierten Schulden, eine ,-angemessene" Entschädigung für die eigentlichen Kriegsschäden fordern müsse. Teilweise ist auch von einer Denkschrift der Gläubiger-Delegationen die Rede, in der dargelegt sein soll, daß man „nie «nd nimmer" unter bestimmte Sätze hinabgehen könne. Owen Nouug soll gleichfalls eine Denkschrift ansgearbeitet haben. Dr. Schacht bleibt Ostern in Paris. Nach den Wochen angestrengter Arbeit wollen die Sachverständigen die Osterfeiertage zur Erholung benutzen. Der Führer der deutschen Delegation, Reichs bankpräsident Dr. Schacht, dürfte während der Oster- fetertage in Paris bleiben. UebrigenS befindet sich gegenwärtig auch die Familie des Reichsbankpräsidenten in Varis. Bismarck und die Gegenwart. 1860 sagte Bismarck in einer Kritik der preußi schen Außenpolitik der letzten Jahrzehnte, Preußen habe mehr und mehr cm Einfluß und Ansehen verloren, weil es keine aktive Außenpolitik treibe und sich darauf beschränke, die Steine aufzusammeln, die in seinen Garten hineingeslogen seien, und zufrieden wäre, wenn es den Schmutz abbürsten könne, der ihm an geworfen worden sei. Auch heute sind unserer Außenpolitik die Hände gebunden. Nicht, daß es den deutschen Staatsmännern an Einsicht oder Fähigkeit fehle, wohl aber hat der ver lorene Krieg unsere Lage gründlich geändert und uns nicht mehr viel Freiheit gelassen. Mühsam müssen wir unsere Bewegungsfreiheit zurückgewinnen. Und damit hat unsere Zeit mannigfache Berührungspunkte mit den Verhältnissen um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts. Die Aufgaben, die uns heute oblie gen, sind vielfach die gleichen: das Gebäude der deut schen Einheit ist noch nicht vollendet, die Deutschen m Oesterreich müssen noch außerhalb der Rcichsgrenzen leben! Als Bismarck sein Amt als Ministerpräsident antrat, sagten Kritiker von ihm, er sei ein Bonapartist, und andere Leute wollten herausgefunden haben, daß Bismarck „nach Juchten röche", d. h. den Russen nach laufe. Recht hatte keiner von ihnen, sie hatten sich in Bismarck genau so geirrt, wie jener Straßenjunge, der, als Bismarck 1848 in Berlin eintras, ausrief: „Kiek, dat is och en Franzos." Bismarck lebt fort in den Werken des deutschen Volkes als „eiserner Kanzler". Seine Außenpolitik jedoch war keineswegs eine Politik in Kürassierstiefeln, sie war geschmeidig und vorsichtig, wie sie es besser nicht sein konnte. Niemals jagte Bismarck uferlosen Plänen nach, er wollte das Mögliche verwirklichen und das stcherstellen, was im Interesse des Staatswohls sicher gestellt werden mußte. Diese Politik ist für Bismarck nicht immer leicht gewesen. Ms er 1866 nach dem Siegeslauf in Böhmen mit Oesterreich Frieden schlie ßen wollte, ehe sich Frankreich einmischen konnte, sträubte sich jedermann im Hauptquartier gegen die weise Beschränkung Bismarcks in den Yriedensbedin- gungen. Bismarck setzte schließlich sein Programm durch, aber seine Nerven hatten den Eindrücken nicht standhalten können, er mußte den Kriegsrat in Ni- koISburg verlassen und verfiel in seinem Schlafzim mer in einen Weinkramvf. Nicht minder schwer war der Kampf, den Bismarck! 1870 zu führen hatte. Der Kanzler beklagte sich da mals darüber, daß der englische Journalist Russel im > Hauptquartier über die Vorgänge und die deutschen Pläne besser unterrichtet gewesen sei, als er selbst. Man sieht daraus, daß eS auch früher schon Reibungen zwi- schen Staatsmann und Generalität gegeben hat. DaS ist erklärlich, ist doch die Furcht, daß die Feder ver dirbt, was bas Schwert erwirbt, uralt. Und doch kann nur der Staatsmann das Ganze überblicken und be urteilen. ! Für das von Bismarck beliebte und meisterhaft gehandhabte Spiel mit den fünf Kugeln fehlen heute die Bedingungen. Die Methoden der Bismarck- schen Außenpolitik können jedoch sehr wohl auch der! Gegenwart manches sagen, und sie können uns lehren, daß schließlich alle Schwierigkeiten überwunden werden können. Die Ziele der deutschen Politik sind friedlich. Wir erstreben keine Vorherrschaft in Europa und wol len niemandem seine Macht nehmen, wir wollen nuy als Freie auf freiem Grund und Boden leben und das Werk der deutschen Einheit vollenden. Das aber kann in einer Zeit, in der das Recht der Selbstbestimmung! jedem Volke gewährt ist, nicht überraschen. Unsere ehe maligen Gegner aber mögen sich bei ihren Plänen gegen Deutschland an Bismarcks Wort erinnern, daß man der Vorsehung nicht so in die Karten sehen kann, um der geschichtlichen Entwicklung nach eigener Be-! rechnung vorzugreifen! Rückkehr Stresemanns nach Berlin. ; Reichsaußenminister Dr. Stresemann, der sich nacht Abschluß der letzten Ratstagung zwei Wochen an der! Riviera zur Erholung ausgekatten hatte, ist am Kar freitag wieder in Deutschland eingetroffen. Wie ver lautet, will der Minister die Osterfeiertage in einem süddeutschen Badeort verbringen. Kurz nach dem Fest wird der Reichsaußenmintster w^'"* nach Berlin zu- rückkehren. . ' . i Entscheidung am Donnerstag? Die letzte Sitzung vor Oster«. — Zwei Vorschläge zur! Debatte gestellt. Die letzte Sitzung der Sachverständigen vor den Osterfeiertagen dauerte nach dem darüber veröffent lichten Bericht eine Stunde und trug im übrigen den „gleichen herzlichen Charakter, wie die Sitzun gen in den vergangenen Wochen". Der Bericht fahrt fort: Dieser Sitzung kommt insofern eine besondere Be deutung z«, als von den Vertretern der Hauptgläu- bigermächte: England, Frankreich, Italien, Belgien «nd andererseits von dem amerikanische« Vorsitzende« Owen V»««g je ein Vorschlag unterbreitet wurde, die beide in der nächsten Bollsitzung, die am Donners tag der nächste« Woche erne«t stattfindet, Gegen stand der weiteren veratungen über die deutsche Zah lungshöhe fein solle«. Ob die von alliierter und amerikanischer Seite gemachten beiden Vorschläge ein« geeignete Unterlage für weitere Verhandlungen bie ten können, läßt sich zur Stunde nicht sagen, da die deutschen Sachverständigen bisher keine Gelegenheit gehabt haben, in eine nähere Prüfung der Vorschlag« einzutreten. Die Sitzung am Donnerstag der kom menden Woche wird hierüber eine Entscheidung bringen. Polen hott fich eine Abfuhr. Oberst Hutchison zieht »ergleiche zwischen Deutsch-Ober- schlefien und vstoberschlesien. Der englische Oberstleutnant Hutchison, der 1920 der oberschlesischen Kommission angehvrte und kürzlich Oberschlesien aufs neue besuchte, stellt in Erwiderung auf Behauptungen des polnischen Pressebureaus in einer Zuschrift an den „Manchester Guardian" fest, daß ln Deuts ch- Oberschlesien nirgends eine Unterdrückung fostzustellen sei. In ganz Deutsch-Oberschlesten seien überall Zeichen des Segens der deutschen Kultur vor handen in Form von hohen Löhnen, guten Unter- kunftsmöglickkeiten und einem guten Gesundheitsdienst. Es habe kein Fall von Unterdrückung gegen Bolen von den Deutschen stattgesunden, während in Pouiisch- Oberschlesien überall die Tyrannei der polni schen Verwaltung gegen die sehr große deutsche Minderheit in die Augen falle. Die polnische Kultur, die die niedrigsten Löhne in Europa hervorbringe, habe den früheren deutschen Lebensstand in Oberschle sien beträchtlich herabgedrückt ' Der tschechisch-französische Patt. Enthüllungen über seine« angebliche« J«halt. - Ver- schwörnng gegen den Anschluß. Der sudetendeutsche Pressedienst glaubt Mitteilun-' gen über den angeblichen Inhalt des tschechisch-franzö sischen Geheimpaktes machen zu können. „Nach dem Geheimvertrag," so erklärt der Presse dienst, „übernimmt die tschechische Regierung die Ver pflichtung, ihre Politik auf die Durchsetzung der Frie densverträge etnzustellen, die Leitung der Armee auf! die Dauer von zehn Jahren einer französischen M- litärmtssion zu übertragen, deren Unkosten auf Rech nung der Tschechoslowatti gehen. Fall» die Anfchlnß- frage zwischen Deutschland u-vcest-rreich iuein Sta dium der Verwirklichung trete« sollte, hat die tsche chische Armee die Städte Linz, Ulzburg, Wie«, so wie die Fnd«strieze«tren «nd Et»risch-tech- «ischen vetrieb- »i» zur Zone einschließlich Wiener- Reustadt zn besetzen. Frankreich besetzt Gra» uud Kla-