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Nr. 9 Freitag, am 11. Januar 1929 95. Jahrgang ssss !t — In Deutschland herrscht gegenwärtig eine KM on 19 Grad. — In der mitteldeutschen Metallindustrie wurde ei, -chiedsspruch gefällt. — In London hat sich wieder ein Rohrbruch mß nterirdischen Explosionserscheinungen ereignet. — In Mexiko wurde ein Unterstaatssekretär im Streit etötet. — Die amerikanische Grippeepidemie hat in der letzte» Loche wiederum 2000 Todesopfer gefordert. . Chronik des Tages — Am heutigen Freitag stimmt di« franz! mer über die MißtrauenSanträg« gegen das Kal arS ab. >« Kam 2 Poiw — Die Reparationskommission bestätigte am Donner» ag die ihr von den Regierungen der Glaubigermächte bv mnnten Sachverständigen. Vor dem Rücktritt Zaleskis? ! Die Stellung des polnischen Außenmini, sters erschüttert! — Auch andere Minister amtsmüde? - In Warschau sind erneut Gerüchte im Umlauf : nach denen größere Beränderungen im Polnischen Km vinett bevorstehen. Die Stellung des Außenministeri ' Zaleski gilt allgemein als erschüttert. Zaleski soll die Absicht haben, nach London als Gesandter zu gehen. Abgesehen vom Außenminister scheinen auch die Minister des Innern und der Finanzen amtsmüd« zn sein. ! Die Ursache für die RücktrittSabsichteu Zaleskis ! ist nicht schwer zu erraten. Marschall Pilsudski ha! mit Zaleski auf der letzten Ratstagung in Lugano wenig Freude erlebt. Zaleski hatte in Lugano bekannt- lich ungebührliche Anklagen gegen die deutsche Minder heit in Oberschlesien erhoben und damit eine Erwide- rung des deutschen Reichsaußenministers ausgelöst, wi< sie schärfer und treffender nicht sein konnte. Der Prä- sident des Rates vergrößerte die polnische Schlapp« noch dadurch, daß er die Tagung für beendet er- klärte, ohne den Polen Gelegenheit zur Entgegnung zu geben. Nicht minder unzufrieden ist man in Warschau mit Zaleski hinsichtlich des Ergebnisses seiner übriger außenpolitischen Maßnahmen. Als Nachfolger Zaleskis im Außenministerium wird der polnische Gesandte in Berlin, Roman Knoll genannt, der wiederum durch den Fürsten Fanns Radziwill ersetzt werden soll. Einige Warschauer «lüt. ter wollen übrigens in dem Fürsten Radziwill auch eine» aussichtsreichen Anwärter auf den Posten de« Außenministers sehen. Verwarnung statt Bestrafung. Die Polizeistrafen sollen eingeschränkt werden. — Ein Runderlaß »es preußischen Innenministers. Der preußische Innenminister gibt in einem Rund- erlaß an die Polizeibehörden und die Beamten de, Landjägerei neue Richtlinien für die Verhängung vor Polizeistrafen. Im wesentlichen besagen die Richtlinien folgendes: Von zahlreichen Ortspolizeibehörden wird noch zu viel und zu hoch gestraft. Polizeibehörden im modernen demokratischen Staate sollen in erster Linie durch Aufklärung Einsicht und Verständnis für polizeilich« Notwendigkeiten fördern. Sie bedienen sich dazu de, Pres > e wie der in Frage kommenden Verbände und Ver einigungen. Von einer Strafe ist abzusehen, wenn di« Schuld des Täters gering ist und die Folgen der Tai unbedeutend sind, es sei denn, daß ein öffentliches Inter esse an einer Bestrafung besteht. Die Schuld soll im allgemeinen als „gering" an- gesehen werden, wenn es sich um erstmalige Ueber- tretungen handelt; „unbedeutende" Folgen sollen als gegeben erachtet werden, wenn die Uebertretung keim nachteilige Wirkungen gehabt hat. In diesen Fällen soll an die Stelle der Polizeistrafe eine polizeiliche Verwarnung treten. Der Minister betont dann noch, für den Fall, daß gestraft werden müsse, sei die Strafe nach Maßgabe der Tat und der Person festzu setzen. Es werde immer übersehen, daß die gleiche Strafe den Armen und den Wohlhabenden ganz ver schieden treffe. Anträgen auf Ratenzahlungen sei stets statt zugeben. Zum Schluß verbietet der Minister, die Zahl der von Polizei- und Landjägereibeamten vorgelegten An zeigen zum Maßstabe der Beurteilung ihrer Lei stungen zu machen. Politische Rundschau. — Berlin, den 11. Januar 1929. — Reichspräsident von Hindenburg empfing eine Ab ordnung des Bayerischen Jägervereins, die ihm für dis Uebernahme der Ehrenmitgliedschaft dankte und eine künst lerisch ausgeführte Urkunde überreichte. :: Das Wiederanfnahmeverfahren gegen Schulz abgelehnt. Der Antrag des aus den Femeprozessen bekannten, ursprünglich zum Tode verurteilten und dann zu einer Freiheitsstrafe begnadigten Oberleut nants a. D. Schulz auf Wiederaufnahme des Ver fahrens im Falle Wilms ist vom Landgericht Berlin abgelehnt worden. Schulz hat gegen dre Ablehnung Beschwerde beim Kammergericht eingelegt. Mit dem angeblichen Geheimbuch der Hanau, das die Namen der bestochenen Politiker enthaften soll, scheint man hereingefallen zu sein. Die Inhaber de, anonymen Konten entpuppten sich als Angestellte! I« mehr das Interesse für das Geheimbuch abslaut desto größeres Aufsehen erregt das Interesse für das „geheimnisvolle Paar", das täglich in Geh. pelzen zu der Bank vor dem Unterfuchungsztmme! stolziert, dort bis in den späten Nachmittag verbleib: und dann — ohne auf Fragen Antwort zu geben — befriedigt wieder von dannen zieht. Ein Rätsel is! es ferner noch, wo die Million geblieben ist, die dei saubere Agent Amard.für die Bestechung des „Jour nal" erhalten hat. Der Direktor der „Gazette dv Franc", Audibert, sagte dem Untersuchungsrichter, e, hätte bis zur Anklageerhebung seinen Kops dafltr aus den Block gelegt, daß das Unternehmen der Martha Hanau nichts Tadelnswertes enthalte. Inzwischen wartet der geschiedene Gatte der Hanau, Lazare Bloch, darauf, auch einmal zu Worte zu kommen. Zungen behaupten, man vernehme ihn nicht, man neue Enthüllungen scheue. Bloch sei kurz vor seiner Verhaftung zu einer „diplomatischen Mis sion bei Mussolini" ausersehen gewesen. Avmkrsch her gesamten Linken ti» daS KM der Opposition ist PoinoarS überraschend gekommen. Di« Spekula. Ministerpräsidenten auf den Zerfall de, Radikalen sind elend gescheitert. UebrigenShaben dit Radikalen bei ihrem Mißtrauensantrag dm Teri einer Tagesordnung wiederholt, mit der 1914 dal Kabinett Ribot gestürzt wurde. ES verdient jedoch HÄ vorgehoben zu werden, daß de« Kamps der Radikalen sich gegen das Kabinett und nicht gegen dis Ber son Poincarss richtet! Wenn man zur Stunde auch noch nicht weiß, ob Poincarä sich mit einer kleinen Mehrheit begnügen wird, so weiß man doch, da« PoinoarL — wenn er jetzt zuracktritt — an de, Spitze einer neuen Regierung zurückkehren wird. Der tiefere Grun» für den Generalsturm »er Lin. ken ist in »er Tätigkeit »er reaktionären Mitgliever »ei Kabinetts zu suchen. In ven Kreisen »er Ravikalen ist man auf den Han»elsminister Bonnefo», ven el- sässischen Staatssekretär Oberkirch und vor allem »en Innenminister Tardieu nicht gut zu sprechen. Das Innenministerium befand sich in Frankreich mehr als dreißig Jahre ununterbrochen im Besitz der Radi kalen, nun aber hat Herr Tardieu seinen Einzug gehalten und die Absicht bekundet, einen großen Schul rechtsgerichteter Beamter durchzuführen. Das wird di« Kampfentschlossenheit der Radikalen merklich gefestigt haben, zeigt aber auch, daß die Krise rein innere politischer Natur ist. Ueber den Ausgang des Kampfes ist vor den Beschlüssen des Ministerrats nichts zu sagen. Das Poincarä heute in der Kammer eine Mehrheit er halten wird, ist sicher. -I» Der Hanau-Skandal bleibt interessant. Das angebliche Gcheimbuch »er Hanau. — DaS ge heimnisvolle Paar im Gerichtssaal. — Audibert wollt« um seinen Kopf wetten. Abgesehen von der Kammerschlacht interessieren sich die französischen Blätter nach wie vor für den Krach der „Gazette du Franc". Es gibt sogar Zei tungen, denen die Nachforschungen des Untersuchungs richters Glard wichtiger sind, als die ganze Politik gehen wird? Wie man sich zu dieser Ächamtenkwick lung einstellt, ist letzten Endes eine Frage der Weld anschauung. Sicher aber ist soviel, daß sich das Wachs tum eines Volkes nicht nach der Theorie von An gebot und Nachfrage systematisch rationalisieren läßt Denn hier sprechen so viele seelische Kräfte mit, das es gefährlich wäre, in dem gegenwärtigen Geburten rückgang allein.eine Folge der sozialen Nachkriegs Verhältnisse zu sehen. Aber ebeuso sicher ist es, das die heutige Generation die Pflicht und Schuldigkeil hat, durch die Bekämpfung vermeidbarer Arbeits- uni Wohnungslosigkeit die Voraussetzungen für ein gesun des Volksleben zu schaffen. k Der Kownower Erzbischof BartolonS ist zum päpst lichen Nuntius ernannt worden. Die Ueberreichung der Vollmacht erfolgte am Donnerstag. * Nach einer Brüsseler Meldung will sich der Flamen führer Dr. Borms nach seiner Freilassung aus dem Zucht haus in Holland niederlassen. * Briand hatte eine Unterredung mit dem russischen Botschafter, bei der das russische Paktangebot an die Rand staaten zur Sprache gebracht worden sein soll. ; Der Pariser Untersuchungsrichter hat drei neu« Aerzte mit der Untersuchung des Geisteszustandes des ehe maligen Finanzministers Klotz betraut. * Englands Generalstabschef rechnet mit einem neuen Krieg! * Der Chef des britischen Generalstabes, Feldmar schall Milne, sprach sich in London über die Roll« der britischen Territorial-Streitkräfte im Kriegsfälle aus. Wenn je, so führte er aus, die Mobilisierung während der Lebens zeit der gegenwärtigen Generation notwendig werde, was er trotz der allgemeinen Ideen des ständigen Friedens fürchte, so müsse Großbritannien in der Lage sein, aus den Territortal-Streitkräften eine große Anzahl von Offizieren herauszuziehen. Die Ausbildung der Territorial-Streitkräfte erfolge nicht, um einen Krieg zu fördern, sondern um ihn unmöglich zu machen. Marschall Milne will also nach dem reichlich alten Rezept den Frieden dadurch erhalten, daß er den Krieg vorbereitet. Deutsche Lebensfragen. Von Dr. P. Petersen. Wenn man die bevölkerungspolitische Gesamtlag« Deutschlands würdigen will, muß man davon aus ehen, daß der Krieg uns «inen Verlust von 1! is 13 Millionen Menschen gebracht hat. Da on ist die Hälfte durch das Versailler Diktat aut em deutschen Reichsverbande herausgerissen worden jwet Millionen der besten Männer sind im Felde ge- allen, eine weitere Million ist der Grippe-Epidemi« md der Hungerblockade erlegen und drei bis drei- inhalb Millionen Kinder, die normalerweise gebore« sorden wären, blieben in den Kriegsjahren ungeboren Hinzu kommt, daß schon lange vor dem Krieg« in starker Rückgang der Geburten ein gesetzt hatte. Es ist eine alte Erfahrung, daß solch« »Erscheinungen in Zeiten steigenden Wohlstandes nich: in den ärmeren Bevölkerungsklassen aufzutreten be ginnen, sondern in den sogenannten besser situierter Schichten, in denen ein verfeinerter Lebensgenuß unk Mine steigende Jntellektualität zur Einschränkung dei Minderzahl führt. Gemessen an den ehelichen Ge burtenziffern beginnt der Rückgang schon um di, ^Jahrhundertwende. Auf 1000 verheiratete Frauen in sAlter von 15 bis 45 Jahren betrug die Zahl de: lebendgeborenen Kinder im Jahre 1880 noch 307 1900 war sie auf 286 gesunken. Dieser Abstieg setzt« sich in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts »fort, so daß im Fahre 1912 nur noch 202 Lebend geburten zu verzeichnen warem Nach dem Krieg« xsank die Zahl weiter bis auf 138 im Jahre 1926 ^Damit ist die Zahl der ehelichen Geburten um mehi Kls die Hälfte gegenüber der Jahrhundertwend« Vermindert! In Berlin, das auch hier in der Spitz« fnarschiert, ist die eheliche Geburtenzahl im Jahre 192' bereits auf 58,6 angelangt, sie beträgt also nur noch ein Fünftel der entsprechenden Zahl des Jahres 1880 Bemerkenswert ist übrigens, daß sich in der Geburten verminderung die sozialen Unterschiede der Vorkriegs zeit jetzt fast völlig ausgeglichen haben. Betrachtet man die Gesamtzahl der Lebend- geborenen, also der ehelichen und unehelichen Ge burten auf je 1000 Einwohner, dann ergibt sich faß das gleiche Bild. Während sie im Jahre 1900 noch 35,6 bei einem Geburtenüberschuß von 13,6 betrug sank sie bis 1926 ununterbrochen bis auf 19,5 bs einem Geburtenüberschuß von 7,8. Im Jahre 192' hat sich diese Bewegung weiter fortgesetzt, so daß nm noch 18,3 Lebendgeborene auf 1000 Einwohner mi! einem Geburtenüberschuß von 6,4 gezählt worden sind Man hätte glauben sollen, daß die Verluste der Kriegs zeit durch die vermehrten Heiraten der Nachkriegs -eit, wenigstens bis zu einem gewissen Grade, Wiede« ausgeglichen wären. Tatsächlich ist ein solcher Aus gleich, was die Zahl der Ehen anbetrifft, erfolgt vobei die sehr zahlreichen Scheidungen einmal auße« Ansatz bleiben sollen. Die Geburtenzahl ist aber nich! entsprechend gestiegen. In besonderem Maße ist die Großstadtbevöl. kerung an dieser Entwicklung beteiligt. Wenn mar nach den neueren statistischen Methoden 17 Lebend geborene auf 1000 Einwohner als diejenige Zahl an sieht, die zur Erhaltung eines Bevölkerungsstandes erforderlich ist, dann sind die deutschen Großstädte heute dazu nicht mehr in der Lage. Sie leben also von der Zuwanderung aus dem Lande, deren bedenkliche wirtschaftliche und soziale Begleiterscheinungen (Land flucht) uns nur allzu geläufig sind. Uebrigens sind die deutschen Großstädte mit ihrer Geburtenzahl unter Weltstädte wie Paris und London gesunken! Paris konnte im Jahre 1926 noch 16,1 Lebendgebo rene, London sogar 17,1 Lebcndgeborene, auf 100t Einwohner verzeichnen. Betrachtet man die deutsche Reichshauptstadt im besonderen, dann hat sie den traurigen Ruhm, mit 9.9 Lebendgeborenen im »1927 in der ganzen Welt die Stadt der geringste: ^Geburtenzahl zu sein. . .. Wenn heute noch wenigstens für tue nächste» Jahre Geburtenüberschüsse vorhanden sind dann liegt das an der abnorm niedrigen Sterbeziffer Die Statistik zieht schon aus dem gegenwärtigen Zu stand den Schluß, daß Deutschland, obwohl äugen blicklich noch ein gewisser Geburtenüberschuß vor Händen ist, in Wahrheit kein wachsendes Volk mehi in seinen Grenzen beherbergt. Für den heutigen ArbeitSmarkt ist übrigens dies« Entwicklung nicht geeignet, eine wesentliche Aenderun, hervorzubringen. In den nächsten Jahren aber wird wie man glaubt, infofern der Geburtenausfall d«! Krieges bereits in Erscheinung treten, als das Angeba an Lehrlingen von 1929 ab schon erbeblich zurück Entscheidungskampf in Paris. Generalsturm gegen »aS Kabinett Poinearb. — Du Hintergründe der Kammerschlacht. — Einberufung eines Ministerrats ans Sonnabend. — Paris, 11. Januar. Am Donnerstag eröffnete die französische Kamme» die Generalaussprache über die Politik des Kabinetts Poincarä; am heutigen Freitag fallt die Entscheidung. Zuvor wird Ministerpräsident Potncarä noch das Wori nehmen. Seine Rede soll, wie die ihm nahestehend« Presse ankündigt, „kurz und von guter Laune" sein Kür den Sonnabend ist ein Mintsterrat einberusen, ir dem entschieden werden soll, ob die Mehrheit, di« sich heut« nachmittag für die Politik der Regierunx ausspricht, ausreichend ist. Fu »en Borraume»» »eS PalaiS Bourbon mimmeli «S von Neugierige,». Die Pariser wollen »en Kamp! uin »aS Kabinett Poincars als Schauspiel genießen Der Andrang war groß; gestern un» heute konnte sist jedoch niemand mehr eine Kart« für die Tribünen er, ober«. Auch unter Berufung auf »ie besten Bezie. Hungen nicht: DaS HanS war seit Tage« ansvertauft Die Kampfansage der Radikalen und damit der Bettage zur Weitzeritz-Zettung