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Der Atzt -Ms ihr beruhigende kröpfen gegeben. Als Mine zu ihrer Tochter trat, lag sie still, und selbst der Lärm, ohne den die Wenninger nicht leben konnte, schien fi« nicht zu erwecken. Hilde war sehr verändert. Ihr Gesicht war alt und gelb geworden, ihre Mutter sah es mit Entsetzen. Aber sie wollte sich zusammennehmen. Sie winkte Leontine Baumann zu, die sie nach dem Krankenzimmer geleitet hatte. .Lassen Sie man, Fräulein, ich weiß Bescheid! Ich paffe auf, daß nichts geschieht!' Kopfschüttelnd ging Leontine. Aber sie war todmüde, ebenso wie Frau von Lörrach, die die ersten Nächte nicht aus den Kleidern gekommen war. Kathrine drängte darauf daß sie sich hinlegte, und auch Florinde erklärte, daß ihre Schwester unbedingt Ruhe haben müßte. Das Zimmer, in dem HUde lag, war halb dunkel, ein bequemer Stuhl stand vor ihrem Bett. Frau Wenninger ließ sich schwer hineinfallen und atmete tief auf. Der Weg war ihr lang geworden, und sie merkte, daß sie nicht geschlafen hatte. Hier war es still und HUde schien fest zu schlafen. Einige Minuten sah die Wenninger in das Gesicht ihrer Tochter und schüttelte den Kopf. Weshalb sah sie Gespenster in der Nacht? War nicht alles in Ordnung? Und wenn HUde jetzt krank war, so würde sie gewiß wieder gesund werden. Die Wenninger schnarchte nach einigen Minuten so laut, daß HUde den Kopf hob und sie starr betrachtete. Dann schlüpfte sie fast unhörbar aus dem Bett und glitt die Treppe hinunter. Aus der Küche im Erdgeschoß hörte man sprechen, das war Kathrine, die mit einer Bäuerin verhandelte; sonst war alles still. HUde stand einen Augenblick regungslos, sah ein großes, graues Tuch liegen, in das sie sich wickelte, um dann aus dem offenstehenden Verandazimmer in den Garten zu gehen. Vorm Pastorat fuhr ein kleiner Wagen auf und ab. Ein Lind lag darin, ein etwa vierjähriges Mädchen schob ihn hin und her. Sie sollte auf Mutter warten, die zum Pastor gegangen war, der Neins Bruder sollte getauft werden. Sine in ein graues Tuch gehüllte Frau stand vor ihr. »WaS hast du hier?' Die Kleine zeigte auf ein flachsblondes Köpfchen, das aus rotgewürfelten Kiffen hervorsah. .Mein kleiner Bruder!' Die Frau griff nach dem kleinen Geschöpf, nahm es auf den Arm und preßte es an sich. .Das ist mein kleiner Junge! Weißt du nicht, daß ich einen kleinen Jungen habe?' Eilig lief sie davon und die Kleine schrie auf: „Mein Bruder, mein kleiner Bruder!' * * * Fritzenhagen hatte wieder eine Aufregung. Die kranke Frau von Lörrach hatte im Delirium das Kind einer Taglöhnerfrau gestohlen und war mit ihm in die Weite gegangen. Sie suchten alle: die verzweifelte Mutter, der Pastor, Helga, die eben vom Malen aus der Kirche kam und alles miterlebte. Hier, im Pastorat, wußten sie zuerst von der Flucht der Kranken mit dem Kinde; erst nach einer Stunde er wachte Frau Wenninger und konnte sich auf nichts besinnen, bis sie das Haus mit Wehgeschrei erfüllte. Das kleine Mädchen wußte nicht genau, wohin die grau« Frau gelaufen war. Sah es doch nach seinem kleinen Bruder, den die Frau auf den Arm genommen hatte. Wohin? Auf das Feld hinter der Kirche, oder ins Moor? Die Kleine konnte nichts angeben, die Mutter weinte erbärmlich; ehe Lutz gerufen war und erschien, «Mg, Stunde«. Anzwischen war natürlich gesucht worden. Helga hatte sich gleich auf die Verfolgung der Kranken begeben. Pastor Elwers ging mit. Er war sehr erregt. Noch niemals war in seinem Fritzenhagen so viel geschehen, wie in diesem Jahre. Aber er klagte nicht, sondern war vernünftig, suchte nach Spuren, fragte hier und dort. Aber niemand von den wenigen Arbeitern, die auf dem Felde arbeiteten, hatte etwas von einer Frau mit einem Kinde auf dem Arm gesehen. Der Gendarm kam mit einem Polizeihund. Leider war cs nicht der dressierte; der befand sich auf einer Aus stellung in der Kreisstadt; dieser undressierte schnupperte hier und da, lief aber tatenlos herum. „Sie wird nach dem Moor gegangen sein!" sagte der Gendarm. „Da laufen alle hin, die sich verstecken wollen. Das Moor ist im Sommer ziemlich trocken, aber ein paar Stellen gibt es ', er hob die breiten Schultern. Helga hatte sich Lutz und dem Pastor angeschlossen. Es kam ihr vor, als müßte sie mit diesem Manne gehen, den das Schicksal verfolgte. Denn war es nicht ein grausames Schicksal, das ihm das Kind nahm und das die Frau irrsinnig werden ließ? Aber als einige Stunden mit ergebnislosem Suchen vergangen waren, blieb der Gendarm stehen. Er deutete auf den hinter dem Moor liegenden Wald. „Wir wollen einmal in den Wald gehen, Herr von Lörrach, den Förster dort kenne ich, er hat scharfe Hunde. Herr Pastor und das Fräulein müssen nach Hause gehen, sie können nicht mehr viel helfen. Es wird gleich dunkel werden!' Elwers legte die Hand in Helgas Arm und ging mit ihr heimwärts. Er sprach wenig, aber er sah die Richtig keit der Worte des Gendarmen ein. „Eigentlich muß ich zu Frau von Lörrach!' sagte er. „Meine Frau wird schon dort sein. Die arme bestohlene Mutter wird auch eines Trostwortes bedürfen.' Aber die Mutter war mit ihrem Wägelchen und kleinen Tochter heimwärts gefahren. Ihr Mann kam von der Arbeit und wollte sein Essen haben. Nachher wollte sie wiederkommen. Glauber stand vorm Pastorat und fuhr Helga an. „Was läufst du hier herum? Du solltest zu den Damen Baumann gehen und sie trösten! Sie werden sehr erregt sein!' „Die Damen Baumann werden nicht so erregt sein wie die arme Mutter, der ihr Kind genommen ist!' er widerte Elwers, und der Doktor murmelte einige ver drießliche Worte. „Die alte Geschichte!" setzte er zornig hinzu. „Die Mütter von Heuzutage gehen unvorsichtig mit ihren Kin dern um! Was wollte die Person auch mit dem kleinen Wesen in der Welt herumkutschieren!" „Sie wollte es bei mir zur Taufe anmelden!' er widerte Elwers, etwas entrüstet, worauf Glauber schel tend wegging. „Ihr Onkel ist sehr eigenartig!" sagte der Pastor nach her zu Helga, die innige begütigende Worte erwiderte. Ihr Onkel wäre in dieser Zett durchaus nicht Wohl und litte an Herzbeklemmungen. Er spräche nicht darüber, aber man müßte Geduld mit ihm haben. In Friedheim sah es trübe aus. Frau Wenninger hatte stundenlang geweint, jetzt war sie ruhiger geworden, und Kathrine mußte sie auf den Lörrachhof bringen. Sie hing sich schwer in den Arm der Köchin und sagte, daß es nicht leicht wäre, mit Adeligen zu tun zu haben. Eine Bemerkung, auf die Kathrine erwiderte, daß es besser wäre, sich vornehmen Leuten nicht aufzudrängen. Leontine und Florinde waren so bewegt, daß sie es richtiger fanden, nicht über ihre Empfindungen zu sprechen und es darin Frau von Lörrach gleichtaten, die wortlos umherging und an ihren armen Lutz dachte, dem ein so schweres Schicksal beschieden war. (Fortsetzung folgt.)