Volltext Seite (XML)
Beilage zur Weitzeritz-Jeilung 95. Jahrcany Nr. 33 Freitag, am 8. Februar 1929 Chronik des Tages. — Reichspräsident v. Hindenburg genehmigte das Rück, trittsgesuch des Reichsverkehrsministers v. GuSrard? dai Kabinett bleibt weiter im Amt. — Reichsaußenminister Stresemann hatte eine letzt« Unterredung mit den deutschen Reparationssachverständigen, die inzwischen nach Paris abgereist sind. — Der verstorbene Ozeanflteger Freiherr v. Hünefeld wird am Sonnabend feierlich in Berlin-Steglitz betgesetzt. — Die Bank von England hat ihre Diskontrate uni 1 Prozent auf 5Ve Prozent erhöht. - In Ratzen in der Oberlausitz wurden der Gemeinde. Vorsteher Ditschas, dessen Frau, Tochter und Schwägerin ermordet aufgefunden. - In Köln wurde der Kupferschmied Georg Simon wegen Mordes zum Tode verurteilt. - Der Lohngeldräuber von der Zeche „Königsborn", Dänisch, ist spurlos aus Luxemburg verschwunden. — Oberst Lindbergh hat den ersten Postflug von den Vereinigten Staaten nach Panama in Balbao glücklich vollendet. Das Reparationsproblem. Kann man Schulden mit geborgtem Geld bezahlen? A. S- Wer Schulden hat und davon loskommen will — auf ehrliche Weise — hat nur eine Möglichkeit: er muß außer den Zinsen jährlich noch einen bestimmten Betrag für die Tilgung der Schuldsumme aufbringen. Selbstverständlich aus seinem Einkommen? denn eins gibt es nicht: man kann Schulden nicht mit Anleihen bezahlen! Auch das Deutsche Reich hat Schulden. Der Ver sailler Vertrag verpflichtet uns, den ehemaligen Feind staaten einen bestimmten Teil der Schäden zu ersetzen, die sie durch den Krieg erlitten haben. Umstritten ist der Endbetrag dieser Summe; nicht umstritten sollte sein, daß er der Höhe unseres Nationalvermögens an gepaßt sein muß. Daß wir nicht alles zahlen können, bescheinigt uns der Versailler Vertrag selbst, heißt es doch im Artikel 232, Deutschlands Mittel reichten nicht aus, die ihm auferlcgte Haftpflicht in vollem Umfange zu erfüllen. Die praktische Folgerung daraus zog die erste Reparationskonferenz 1924, die sogenannte Dawes konferenz, indem sie ausdrücklich die Forderungen der Alliierten und ihre Berechtigung beiseite schob und die Frage der deutschen Leistungsfähigkeit in den Vordergrund rückte. In: Vergleich zu dem bis dahin angewandten System der Sanktionen und des Ruhreinbruchs stellt der Dawcsplan ohne Zweifel einen Fortschritt dar. Mehr aber auch nicht. Eine endgültige Lösung der Reparationsfrage hat der Dawesplan nicht gebracht und konnte er nicht bringen, weil seine Väter in ihm selbst nur ein Experiment sahen: Unter dem Dawes-Regime sollte festgestellt werden, wieviel Deutsch land ohne Erschütterung seiner Wirtschaft und seiner Währung aufbringen und in das Ausland abführen kann. Die Alarmglocke war die Transfcrklausel zum Schutze der deutschen Währung. Sicher spricht der Mechanismus des Dawes-PlaneS für den Scharfsinn seiner Verfasser. Und trotzdem zogen immer schwärzere Gefahrenwolken herauf, ohne daß die Alarmglocke zu läuten anfing. So kam es dahin, daß der Reparationsplan funktionierte und der Dawesplan nicht erfüllt wurde. Denn letzten Endes haben wir zwar Jahr für Jahr und prompt die uns zugedachten Tributsummen aufgebracht, wir haben aber trotzdem den Dawesplan seinem Sinn nach nicht er füllt, weil wir die Tribute nicht aus den Ausfuhr überschüssen gezahlt haben; wir haben den durch die Tribute erlittenen Kapitalverlust durch die Aufnahme von Ausländsanleihen wieder ausgeglichen. Wir haben also Schulden mit Anleihen „bezahlt"! Selbstverständlich ist die Schuldsumme dadurch nicht geringer geworden. Außerdem ist dieser Weg nur so lange gangbar, wie unsere Wirtschaft nicht überschuldet ist. Ist das erst eingetreten, dann wird man uns auch un Auslande nichts mehr pumpen, und dann wird sogar die Alarmglocke das Dawesplanes mächtig anschlagcn. Jetzt wollen die Sachverständigen in Paris den Ver such machen, noch einige Minuten vor diesem Zeitpunkt eine wirkliche Lösung herbeizuführen. Notwendig ist das auch schon deshalb, als wir schließlich nicht Jahr für Jahr Milliarden aus unserer Wirtschaft heraus- Vrcssen können, ohne zu wissen, wie lange diese grau same Tortur fortgesetzt werden soll. Bisher wissen wir das nämlich noch nicht, weil der Dawesplan wohl die Höhe der einzelnen Jahres raten festgesetzt hat, über die Dauer der Zahlungen jedoch nichts enthält, wenigstens nicht direkt. Wenn wir somit heute auch noch nicht wissen, was wir zahlen sollen, so wissen wir doch, was wir gezahlt haben, und es besteht alle Veranlassung, das den Sachver ständigen deutlich ins Gedächtnis zu rufen. Der Da- wesplan ist am 1. August 1924 in Kraft actreten: seitdem haben wir 6,7 Milliarden Mark an Repara tionen ausgebracht. Weit größer aber sind die Tribute, die wir vor dem Dawesplan abgeführt haben: Wir haben wertvolle Landesteile geopfert, die Kolo nien verloren, die Saatgruben und die Han delsflotte ausgeliefert, wir haben den ehemaligen Feindstaaten Kriegs- und Eisenbahnmaterial tu Hülle und Fülle übergeben, und schließlich haben wir infolge unserer Kapitalnot auch noch große Teile un sere« Aktienbesitzes an das Ausland verkauft. Angerechnet worden sind uns diese Opfer bisher nur z« einem geringen Teil. In der Zeit, als die 132 Milliardensumme in den Köpfen spukte, stellte man sich in Paris sogar einmal auf den Standpunkt, daß Ar dckkmt noch nicht einmal die Zinsen unserer Schuld bezahlt hätten! : Die Sachverständigen, die am Sonnabend erstmals j miteinander Fühlung nehmen werden, werden nüch- ! terner sein. Man wird rechnen und Gegenrechnungen ! aufmachen, man wird mit Zahlen und Gegenwarts- ! werten operieren, und schließlich wird man sich doch überzeugen müssen, daß Deutschland seine Tributschuld nur abarbeiten kann. Aber eins vergesse man nicht, , nämlich, daß hinter den Zahlen und Statistiken Men- j schen stehen, deren Lebenshaltung und Arbeitsmögltch- ! keit durch die Reparationstrtbute beeinträchtigt wird. Auf der ersten Reparationskonferenz meinte ein Sachverständiger, die Folgen allzu hoher Schulden eintreibungen würden sich schon in einer anorma- > lenSterbezisf'er zeigen. Das ist eine erschütternde ! Formulierung, die in furchtbarer Deutlichkeit die Ge fahren des Reparationsproblems zeigt. Aufgabe der Sachverständigen ist es jetzt, eine Losung zu finden, ; die von Anfang an tragbar ist und es nicht erst da durch wird, daß die Illusionen eine furchtbare Korrek tur erfahren. ! Das Kabinett bleibt im Amt. Unter Zustimmung des Reichspräsidenten. — Severing und Schätzel übernehmen die frcigewordenen Ressorts. Aus Veranlassung des Reichskanzlers Müller- Franken trat das Reichskabinett am Donnerstag zusammen, um die durch den Rücktritt des Reichsver- kehrsministers v. Guörard geschaffene Lage zu be sprechen. Nach Beendigung des Kabinettsrats wurde eine amtliche Mitteilung herausgegeben, in der es heißt: „Das Kabinett war einmütig der Ansicht, daß die außen- und innenpolitische Lage, insbesondere die unmittelbar bevorstehenden Verhandlungen über die Reparatiousfrage, der Reichsregierung die Fortführung der Geschäfte auf der Grundlage der Regierungserklä rung vom 3. Juli vorigen JahreS zur unabweisbaren Pflicht machen. Der Reichskanzler erstattete alsdann »em Reich-Präsidenten über die Auffassung des Kabi- uettS Bericht. Der Reichspräsident trat dieser Stellungnahme vollkommen bei, genehmigte das Rück- trittsgesuch des ReichsverkehrSministerS v. GuSrard und beauftragte, entsprechend dem Vorschlag des Reichs kanzlers, den Reichspostminister Dr. Schätzel mit der Wahrnehmung der Geschäfte des ReichsverkehrSmini sterS und den Reichsminister des Innern, Severing, mit der Wahrnehmung der Geschäfte des Reichsministers für die besetzten Gebiete." Das Reichskabtnett hat somit aus der Zurück ziehung des Vertrauensmannes der ZentrumSfraktton keine Folgerungen für das Gesamtkabinett gezogen. Be stimmend dafür war die Ueberlegung, am Vorabend der Reparationskonferenz unter allen Umständen den Aus bruch einer offenen Krise und damit die Lahmlegung ver Aktionsfähigkeit der deutschen Regierung zu ver hindern. Das Schicksal des Kabinetts ist jedoch keines wegs gesichert. Gewiß, das Kabinett kann sich mit wechselnden Mehrheiten über Wasser halten, aber wenn die Opposition einheitlich vorgeht, ist der Sturz der Regierung besiegelt. Es ist also dringend zu wünschen, daß der jetzige Zwischcnzustand baldigst be endet wird. Was wird mit dem Haushaltsgesetz 4 Die Aussichten sind nicht gut; das neue Reichs haushaltsgesetz, das in den nächsten Wochen vom Reichs tag verabschiedet werden muß, ist heftig umstritten. Wie man der Vorlage eine Mehrheit verschaffen kann, weiß heute noch niemand zu sagen. Abstimmungen bet der Etatsberatung können daher leicht mit einer Niederlage der Regierung enden, damit den Sturz des Kabinetts herbeiführen und dadurch die rechtzeitige Verabschiedung des Etats zur Unmöglichkeit machen. Welche Taktik das Zentrum einschlagen wird, nachdem es seine Entschlußfreiheit in vollem Umfange viedergewonnen hat, bleibt abzuwarten. In Zentrums kreisen bezeichnet man die Abberufung des Ministers, s. Guörard als den „Schritt in die sachliche Op - oosttion" man betont dabei, die Maßnahmen der Negierung ernsthaft, sachlich, ruhig und kritisch prüfen ;u wollen. Das Zentrum würde danach zunächst Gewehr bei Fuß stehen. Unterstrichen zu werden verdient noch, daß das Zentrum zum ersten Male seit zeh» Jahren in der Opposition steht; bisher hat nämlich die Ze«» trnmösraktion in jeder Negierung mitgcarbeitet. Neue Verhandlungen !n Preußen. Die Verhandlungen über die Erweiterung der preußischen Regierungskoalition durch die Aufnahme der Deutschen Volkspartei werden, unbekümmert um den Ausgang der Verhandlungen im Reiche, fortgesetzt. Für den heutigen Freitag ist eine Sitzung des inter fraktionellen Ausschusses vorgesehen, der sich aus Ver- tretern des Zentrums, der Demokraten und der Sozial demokraten zusammensetzt, und zu dessen Beratungen wahrscheinlich auch Vertreter der Deutschen Volkspartei hinzugezogen werden. Die Trauerfeier für Hünefeld. Der Pilot wird am Sonnabend in Steglitz beigesetzt. — Drauerzug durch Berlin. Der verstorbene Ozeanflieger Freiherr v. Hünefeld wird am Sonnabend in Berlin beigesetzt. Im Dom findet eine Trauerfeier statt. Nach der Aufbahrung der Leiche im Dom wird der Ring der Flieger die Totenwache stellen, und zwar wird neben anderen bekannten Fliegern Hauptmann a. D. Köhl an der ' Bahre seines Freundes und Kameraden die Wacke bal- > tew. Rach der Trauerseier im Dom, bei der vberdouw > Prediger v. Doehring die Trauerrede hatten wird, wird sich voraussichtlich unter Teilnahme der Aliegerverbände und der sonstigen Organisationen et« Tranerzng bil den, der die Leiche HünefeldS durch Berlin zm« Steg litzer Friedhof geleitet, wo die Beisetzung erfolgt. Die greise Mutter des so jäh Verstorbenen hat aus allen Reichsteilen Beileidskundgebungen erhalten; aus dem Auslands sind u. a. Beileidskundgebunaen vom irischen Fliegerkorps etngegangen. Der japanische ylis- gerklub hat der Deutschen Botschaft in Tokio sein Bei leid ausgesprochen. Die Sachverständigen in Paris. Die Ankunft der Delegierten. — Am Sonnabend erst« Fühlungnahme. — Parker Gilbert ist zuversichtlich. Die deutschen Sachverständigen für die Repara tionsfrage, Reichsbankpräsident Dr. Schacht und Ge neraldirektor Dr. Bögler, hatten am Donnerstag eine letzte Besprechung mit dem Reichsaußenminister Dr. Stresemann und haben sich danach nach Paris begeben. Die belgischen und japanischen Delegierten waren kurz vor den deutschen Sachverständigen in Paris eingetrof fen. Die Engländer trafen im Laufe des Freitags ein, ebenso die Amerikaner Morgan und Owen Joung. Parker Gilbert, der von der Grippe wieder herge- § stellt ist, hatte eine Unterredung mit PoiuearL und sott sich dabei zuversichtlich ausgesprochen und die Hoff- ! nung geäußert haben, daß Owen Uvung doch noch den i Vorsitz der Konferenz annehmen werde. , lieber den Arbeitsplan der Sachverständigen ist noch nichts bekannt. Man glaubt allgemein, daß die Sachverständigen den Sonnabend zu einer ersten Füh lungnahme benutzen werden, um dann am Montag die eigentlichen Arbeiten zu beginnen. Ob und wann die Sachverständigen auch nach Berlin kommen werden, läßt sich heute noch nicht sagen. Die Neugliederung im Westen. Erhebliche Veränderungen der kommunale« Grenzen geplant. — Die Vorlage deS StaatSministerimnS. In den nächsten Wochen wird sich der Preußische Staatsrat mit der Regierungsvorlage über die Neu gliederung des rheinischwestsälischen Industriegebietes befassen. Es handelt sich um eine regionale Ver» waltunasrefom, der Maßnahmen in anderenLan- desteilen folgen sollen. Die Wirk«ug der Vorlage er streckt sich auf ei« von «,3 Millionen bewohntes Gebiet. ES solle« herabgesetzt werde«, die Zahl der Landkreise von 23 auf 12, der Stadtkreise um 6, der «emter um 2S, der Landgemeinden um 49 und der kreisange» HSrige» Städte um 12. Auf der linken Rheinseite ist der Zusammen schluß der Städte München-Gladbach und Rheydt einer seits und von Krefeld und Uerdingen andererseits sowie die Auflösung der Landkreise Krefeld, Kempen, Grevenbroich und Neuß geplant. Aus der rechtes» Rheinseite sollen die Städte Duisburg und Hamborn; Oberhausen, Sterkrade und Osterfeld; Wald, Höhscheid, Gräfrath und Solingen, sowie Barmen und Elber feld vereinigt und die Landkreise Dinslaken, Düsseldorf, Mettman, Solingen, Lennep und Essen aufgelöst werden. Geringfügigere Aenderungen sollen im Regie rungsbezirk Münster Platz greifen. Im Regierungs bezirk Arnsberg ist die Auflösung der Landkreise Hörde, Bochum, Hattingen, Hagen und Schwelm vor gesehen, deren Gebiet zum Teil in die Städte Dort mund, Bochum, Witten und Hagen und die Landkreise Hamm und Iserlohn eingegliedert, zum Teil zu einem neuen Landkreise „Ruhrkreis" zusammengeschlossen wird Politische Rundschau. — Berlin, den 8. Februar 1929. — Im Preußischen Landtag ist ein deutschnattonaler Antrag eingebracht worden, der u. a. fordert, die Höhe der Aufwertung bei den Sparkassen bis auf 25 v. H. zu steigern. — General Ludendorff sprach im Kriegervereinshause in Berlin über das Thema: „Kriegshetze und Völkermorden . * :: Die R^ichSbahnwerkstätten Frankfurt/Oder unb Glogau werden endgültig geschlossen. Die Reichsbahn- Gesellschaft hat die endgültige Schließung der ReiHs- dahnwerkstätten Frankfurt/Over und Glogau angeord net; die Betriebe sollen Anfang 1930 aufgelöst werden. Die beiden Städte werden dadurch schwer betroffen. Rundschau im Auslande. ; Der österreichische Bundeskanzler Dr. Seipel hat sich auf der Fahrt von Graz nach Wien erkältet; der Kanzler weilt gegenwärtig im Kloster Hüttelsdorf. PAsssiche Regierung hat ihren Gesandten in Ber lin. Mirza Mohammed Ali Khan Farzine, zum stellver tretenden Außenminister ernannt * Abenteuerliche Flucht eines Deutschen auS Afghanistan. * Ein deutscher Staatsangehöriger, Otto Sperling, der als Angestellter einer Baumwollwarensabrik in Kabul tätig war, ist nach Teheran geflüchtet. Nach seinen Erzählungen wurde er in der Nähe von Kandahar von afghanischen Soldaten verhaftet und beraubt. Mit großer Mühe sei es ihm gelungen, auf persisches Gebiet zu flüchten. Die persi schen Behörden haben sofort.Maßnahmen für die Weiter fahrt des Flüchtlings nach Deutschland getroffen.