Volltext Seite (XML)
Vom Werden des musikalischen Kunstwerkes Immer wieder wird vom Konzertbesucher die Frage nach dem Entstehen und Wachsen des musikalischen Kunstwerkes gestellt. Mit anderen Worten: Was geht beim Komponieren eigentlich vor sich ? Viel ist darüber geschrieben und gesprochen worden, Kluges und auch Dummes. Man hüte sich vor allem vor Verallgemeinerungen. Jeder schöpferische Mensch arbeitet anders. Wir wissen, daß Mozart oft seine Kompositionen niederschrieb, ohne nachträglich auch nur eine Note zu verändern. Von Beethoven wissen wir wiederum, wie unnachgiebig er zumeist an seinen Themen feilte, wie er unentwegt veränderte, verbesserte, bis der „Einfall“ seine letzte und gültige Fassung erhalten hatte. Der Einfall: Wie er zustande kommt, wer kann es mit Worten beschreiben? Ist die Inspiration der wichtigste Punkt beim Komponieren ? Oder die Kunst der hand werklichen Verarbeitung? „Meistens erscheint das Samenkorn des zukünftigen Werkes“, lesen wir bei Peter Tschaikowski, „ganz plötzlich und überraschend. Fällt das Korn auf fruchtbaren Boden, d. h. ist Arbeitsstimmung vorhanden, so schlägt dieses Korn mit unglaublicher Kraft und Schnelligkeit Wurzel, schießt aus dem Erdreich hervor, treibt Stengel, Blätter, Knospen und schließlich Blüten.“ Nicht immer verlaufen Ausarbeitung, Formung und Gestaltwerdung — nach Tschai- kowskis Worten „der Weg zur Blüte“ — ohne Unterbrechungen. Unsere beiden Werke des heutigen Abends sind bezeichnende Beispiele für ein langsames, teilweise sogar qualvoll langsames, sich über Jahre hinaus erstreckendes Werden. Beglückend bleibt es in beiden Fällen, daß wir beim Hören der Werke nichts mehr spüren von den persönlichen Hemmnissen und Widerwärtigkeiten des Alltags. Gottfried Keller hat in seinem Gedicht „Poetentod“ darüber geschrieben: „Werft jenen Wust verblichener Schrift ins Feuer, Der Staub der Werkstatt mag zugrunde gehn! Im Reich der Kunst, wo Raum und Licht so teuer, Soll nicht der Schutt dem Werk im Wege stehn!“ Die „Manfred-Sinfonie“ gehört ihrer Entstehungszeit nach eigentlich zwischen die „Vierte“ und „Fünfte“, doch bezifferte sie Peter Tschaikowski nicht, so daß sie heute allgemein als seine „Siebente“ bezeichnet wird. Tschaikowski begann mit der Arbeit im Frühjahr 1885. Auf Zetteln und Briefbogen notierte er seine Konzeptionen. Der literarische Vorwurf zum Manfred-Stoff, den ihm Balakirew vorgeschlagen hatte, reizte ihn vorerst wenig. Doch bald nahm ihn der Konflikt zwischen hellem Ideal (Astarte) und dunkler Wirklichkeit gefangen, es reizte ihn, dem englischen Faust-Thema (nach Byron) ein russisches Nationalkolorit zu ver leihen. Tschaikowski lebte so stark in seiner neuen Aufgabe, daß er die Vorberei tungen zu seiner geplanten Oper „Die Zauberin“ unterbrach, um sich nur noch dem Manfred-Stoff widmen zu können: „Die Symphonie hat sich als gewaltig, ernst und schwierig herausgestellt“, lesen wir in einem Brief vom 13. August 1885 an die Sängerin Paplovskaja. „Sie nimmt meine ganze Zeit in Anspruch und er-