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Der zweite Satz ist ein anmutiges, zauberhaftes Scherzo, voll witziger und paradoxer Einfalle. Es schauint über an Kontrasten der Rhythmen, der Klänge und auch der musikalischen Ideen. Das erste Thema, duftig wie ein Wölkchen und sanft wie ein Lüftchen, erscheint in der Form eines raschen Walzers. Das zweite Thema ist zurückhaltender, etwas erdhafter wie ein Ländler. Das dritte Thema dagegen ist breit und schwungvoll und hat einen dynamischen Charakter. Das Finale ist Ausdruck überschäumender, gewinnender Lebensfreude und jugendlich-begeisterten Berauscbtseins. Schostakowitsch will sagen, daß die Welt schön sei. Das Hauptthema dieses Schluß satzes erinnert an einen Galopp. Noch sorgloser gibt sich das zweite Thema, das durch die Vorschläge der Holzbläser auffällt, so, als ob Spatzen tschilpten. Es entwickelt sich eine stampfende, witzige Rhyth mik, die in eine stürmische Koda mündet. Interessant ist Scbostakowitschs Bemühen, seine musikalischen Gedanken lakonisch und kurz auszu drücken und durch eine Beschränkung auf oft nur zwei oder drei Stimmen äußerste Durchsichtigkeit und Leichtigkeit des Klanges zu erzielen. Die Instrumentierung ist deshalb vorwiegend kammermusikalisch Das volle Orchester (das Tutti) wird verhältnismäßig selten verwendet. Trotzdem klingt alles klar und frisch dank der großen Kunst Scbostakowitschs. der mit diesem Werk ebenso beweist, daß er zu den großen Meistern der Gegenwart zu rechnen ist. Antonin Dvofäk schrieb seine 2. Sinfonie in d-moll, op. 70, in den Jahren i88.( -1885. Schon lange vorher hatte er diese Komposition geplant, die, dem Erscheinen nach die zweite seiner Sinfonien ist. Brahms hatte nach dem Bekannt werden mit Dvofäks 1. Sinfonie in D-dur an jenen geschrieben: „Ich denke mir Ihre Sinfonie noch ganz anders als diese.“ Diese Aufforderung setzte Dvofäk in die Tat um. Er zitiert im ersten Thema ein wichtiges Motiv aus der Hussitenouvertüre, um mit ihm seinen Trotz und seine Kampfeinstellung gegen das damalige Deutschtum, das die Tschechen im österreichischen N'ationalistenstaate unterdrückte, auszusageu. Das gesamte Werk ist nun ein leidenschaftliches, was im Hauptthema des ersten Satzes mit seinem Abbrechen auf einem verminderten Akkord, der den ganzen Schmerz und die tiefe Enttäuschung ausdrücken will, sofort zu spüren ist. Der ganze Satz erhält sein eigentümliches Gepräge durch jenes Stocken und Neubeginnen mit wildem Aufschwung. Das Adagio zeigt ganz deutlich die dreiteilige Liedform, in der Dvofäk seine tiefsten und schönsten Gedanken aus zudrücken fähig war. Auch das Scherzo bringt dieses Stocken und Schwanken wie im ersten Satze und das Finale vor allem zeichnet sich aus durch eine kraftvolle Gebärde, in der Entschlossenheit und Trotz vorherrschen. Wenn im 19. Jahrhundert als Grundgedanke der sinfonischen Form das Motto „Durch Nacht zum Licht“ maßgeblich gewesen ist, dann trifft dies für die d-moll-Sinfonie von Dvofäk nicht zu. Darin hat sie wohl eine Sonderstellung. Im sinfonischen Schaffen Dvofäks hat sie diese Aus nahmestellung auch deshalb, weil kein Thema irgendeinem tschechischen Volkslied oder seinem Charakter nachgestaltet ist, weil er in dieser Sinfonie keinen Anklang an heimatliches Liedgut hören läßt. Dvofäk spricht in ihr nur seinen eigenen Schmerz, sein Leiden, seine Enttäuschung und seinen eigenen lrotz und_ Widerstandswillen aus. Es ist ein wirklich individuelles Werk, eins aus der großen Reihe der persönlichen Bekenntnisse, an denen das 19. Jahrhundert als individualistisches Jahrhundert so reich ist. 1885 schreibt Dvofäk, der inzwischen Familienzuwachs bekommen hatte, voller Stolz an seinen Verleger Simrock: „Was noch zu sagen ist, weiß ich nicht. Nur das wäre für Sie noch von Interesse, wenn ich Ihnen mitteilte, daß in unserer Familie wieder ein neues Opus — ein Bub — mehr ist! Also sehen Sie, eine neue Sinfonie und ein Bub dazu! Was sagen Sie zu dieser schöpferischen Kraft?" Johannes Paul Thilman