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KONGRESS-SAAL DEUTSCHES H YG I E N E - M U S E U M Sonnabend, 3. Dezember 1960, 19.30 Uhr Sonntag, 4. Dezember 1960, 19.30 Uhr 4. ZYKLUS - KONZERT GASTDIRIGENT GMD Ude Nissen, Erfurt ANTONIN DVORAK Böhmische Suite op. 39 Pastorale —Polka — Sousedskä (Minuetto) — Romanze— Furiant Ouvertüre „Othello“ op. 93 (Erstaufführung) PAUSE 4. Sinfonie d-Moll Op. 13 (Erstaufführung) Allegro Andante e molto cantabile Scherzo, allegro feroce Finale, allegro con brio Die Ouvertüre ,,Othello“ op. 93 ist die letzte von drei Konzert-Ouvertüren, die Dvorak 1891 schuf, in dem Jahre also, in welchem er sein 50. Lebensjahr voll endete. ,,Natur, Leben und Liebe“, dieses Programm der drei Ouvertüren op. 91 bis 93, gewinnt in den während der Arbeit am Werk gewählten Überschriften „In der Natur“, „Karneval“ und „Othello“ an Eindeutigkeit und Sinnfälligkeit. Mit dem Hang zum Kontemplativen, das den Meister um dieses Lebensalter herum kennzeichnet, geht ein stärkeres Hingezogenwerden zu programmatischer Musik Hand in Hand. Manches von dem, was Dvorak über das Eingebundensein des menschlichen Daseins in das Geschehen der Natur gedacht haben mag, ist in diesem Zyklus klingendes Bekenntnis geworden, Bekenntnis zur Natur als der großen Gebenden, Bekenntnis zu Daseinsfreude und üb er schäumender Lebensfülle. Ein geständnis aber auch der Tatsache, daß ebenfalls aus dem Schoße der Natur Gewal ten hervorgehen, die — wie im „Othello“ die Eifersucht — Edelstes im Menschen zu vernichten wissen. Daß Dvorak die drei Ouvertüren von vornherein als zykli sches Werk — dem im Gegensatz zu den sinfonischen Dichtungen kein Vorwurf von außen her zugrunde liegt — gedacht hat, geht (neben ihrer direkten zeitlichen Aufeinanderfolge) aus der Verwendung des Themas „Natur“ in allen drei Arbeiten hervor, das in der ersten Ouvertüre naheliegenderweise als Hauptgegenstand der Abhandlung, in der zweiten als knappe Reminiszenz, in der dritten dann wiederum nach Ausmaß und Bedeutung gewichtiger in Erscheinung tritt. Der Wert, den der Meister diesen Stücken zumaß, mag am ehesten daraus erkannt werden, daß er „In der Natur“ der Universität Cambridge, „Karneval“ der Uni versität Prag dedizierte, die ihm kurz zuvor die Ehrendoktorwürde verliehen hatten. Bei aller oben angedeuteten Einheitlichkeit der Grundkonzeption wahrt jedes der drei Werke sein eigenes Gesicht. Das gilt sowohl im Hinblick auf Orchestrierung, thematische Arbeit, melodische, harmonische und rhythmische Fakten, als auch hinsichtlich der unterschiedlichen Stimmungsgehalte, die neben das Hohelied alles Seienden („In der Natur“) die Extreme praller Diesseitigkeit („Karneval“) und — musikalisch so kühn als auch kompliziert gelöster — grauenhafter Verzerrung des menschlichen Antlitzes („Othello“) setzen. Die Ouvertüre „Othello“ ist zwar an der überkommenen Sonatenform orientiert, weicht aber aus inhaltlichen Gründen frei von ihrer Strenge ab. Eine Verbindung zu Shakespeare ist zwar ohne Mühe gegeben, jedoch ist dessen Drama nicht der direkte Vorwurf und gleich gar nicht für die Form der Komposition richtunggebend. Eher möchte „Othello“ als Begriff, quasi als Siegel für ein viele Betreffendes gemeint sein, das Werk also aus dem Ein zelschicksal ins Allgemein-Menschliche verweisen. Geborgensein in Natur und unter Menschen, Erhebung durch echte Zuneigung zueinander werden fragwürdig: Zehrende Eifersucht überwuchert das Denken. In solch unheilschwangere Atmosphäre klingen Gedanken an Liebe und Glück hinein. Sie vermögen jedoch nicht, das Gefahrdrohende hinwegzufegen: Erinnerung allein