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Die lebendige, mit dem Inhalt verschwisterte Form kennt weder Schema noch Er starrung. Wie die Vielfalt des Lebens mit einzelnen Begriffen nicht zu erfassen ist, lassen auch die musikalischen Grundformen eine Menge Variationsmöglichkeiten zu, Ergänzungen, Änderungen, Umbildungen und Neuformungen. Die Form bildet für das Kunstwerk das Gerüst, das Gefäß; für den schöpferischen Meister bedeutet Form Verpflichtung zu konzentrierter, gebändigter und zuchtvoller Aussage. Igor Strawinsky, der in diesen Tagen seinen 75. Geburtstag feierte, wußte um das Ge setz der lebendigen Form, als er schrieb: „Meine Freiheit besteht darin, mich in jenem engen Rahmen zu bewegen, den ich mir selbst für jedes meiner Vorhaben ge zogen habe. Je mehr Zwang man sich auferlegt, tim so mehr befreit man sich von den Ketten, die den Geist fesseln.“ Mit ihren Werken beweisen Ottmar Gerster, Kurt Hessenberg, Johannes Paul Thil- man und Richard Strauss, daß sich alte Formen mit neuen Inhalten erfüllen lassen, wenn der Komponist um den Zusammenklang von Form und Inhalt weiß. Das Wort Toccata wird abgeleitet von toccare (it.) = berühren. Mit anderen Wor ten: Ein Instrument berühren, d. h. ein Instrument spielen. Ursprünglich wurde damit ein freies Improvisieren auf einem Tasteninstrument bezeichnet. Die ersten Meister der Toccata waren Giovanni Gabrieli und Claudio Merulo, Giro- lamo Frescobaldi und Luigi Rossi. Mit der Toccata als „Schlagstück“ sollten gleich sam Tasten und Finger ausprobiert werden, darum wechselten die alten Toccaten zumeist zwischen virtuosen Passagen und gehämmerter (geschlagener) Akkordik, wobei polyphone Elemente nur eine untergeordnete Rolle spielten (kurze Zwischen- und Verbindungsepisoden). Die Orgeltoccaten Bachs bildeten einen Höhepunkt dieser musikalischen Form. Nach Bach wurden Toccaten in der Hauptsache für Klavier geschrieben, in der Gegenwart auch wieder in stärkerem Maße für die Orgel. Berühmt wurden die Klaviertoccaten von Robert Schumann, Claude Debussy,Mau rice Ravel, Serge Prokofjew und Aram Chatschaturj an. Der Wechsel zwischen Linienspiel und Akkordik bestimmt auch den Charakter von Ottmar Gersters 1942 veröffentlichter „Festlicher Toccata“ für Orchester. Ließ sich der Komponist dabei von dem zwischen 1400 und 1600 gebräuchlichen „Bläser-Tusch“ (toccato) anregen? Bei Claudio Monteverdi finden wir diese Form der Instrumentaltoccata noch als Ouvertüre (Prolog) zur Oper „Orfeo“. Mit einer dreimaligen Aufwärtsbewegung wird Gersters Toccata eröffnet, nach we nigen Takten leitet eine aus der Anfangsbewegung gewachsene Triolenkette zu einem einfachen, liedhaften Thema (Blechbläser), das im Verlaufe des Werkes mehr mals wiederkehrt. Die langsame Einleitung entfaltet sich: Holzbläser und Streicher ergänzen sich in rauschenden Figuren, die Blechbläser untermauern im rhythmisch bestimmten Schreiten den Ablauf der Musik. Die Bewegung steigert sich und mündet in einen Allegroteil, der so etwas wie eine Durchführung des bisherigen Themen materials darstellt. Auch in den polyphonen Partien schreibt Gerster eine klare, einfache, musikantische und vitale Musik, als Einleitung zu Veranstaltungen und Konzerten Gebrauchsmusik im besten Sinne. Mit einem Rückgriff auf die langsame Einleitung rundet der Komponist formal das Ganze. Kurt Hessenberg wurde 1908 in Frankfurt (Main) geboren, wuchs in einer sehr musikliebenden und musikpflegenden Familie auf, studierte bei Günther Raphael in Leipzig von 1927 bis 1931, wirkte ein Jahr in seiner Studienstadt und von 1933 bis heute in seiner Vaterstadt Frankfurt; zuerst am Hochschen Konservatorium, später an der Staatlichen Hochschule für Musik. 1940 wurde Hessenberg mit einem Kompositionspreis ausgezeichnet, 1951 erhielt er den Robert-Schumann- Preis der Stadt Düsseldorf, zwei Jahre darauf wurde ihm der Professorentilel verliehen.