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Beilage zur Weitzeritz-Jeilung Nr 34 Mittwoch, am 10. Februar 1926 92. Jahrgang ----- ' ""A-70I - —s " Die deutschen Kriegsgefangenen. Wjeviele werde« noch in Frankreich nnd Rußland zuriickgehakten? Nor einigen Tagen wurde im Haushaltsausschutz des Reichstages auch die Frage erörtert, wieviele deutsche Kriegsgefangene noch in Frankreich und Rutz- land zurückgchalten werden. Wie ein Vertreter des Auswärtigen Amtes des näheren auLführte, befindet sich in französischen Händen nach sorgfältigen Ermittelungen nur noch e r n deutscher Kriegsgefangener, namens Hoppe, der vor Friedensschluß von einem französischen Kriegsgericht wegen Raubmordes an zwei Zivilisten zum Tode ver urteilt worden war. Gegen das Urteil sind offenbar Bedenken nicht zu erheben. Hoppe ist auf dringendste Vorstellungen der deutschen Regierung zu lebensläng licher Zwangsarbeit begnadigt worden und verbüßt seine Strafe in Cayenne. Ein neuerdings etngegan- genes Gnadengesuch der Mutter Hoppes wird der fran zösischen Regierung befürwortend weitergegebcn wer den. Die Meinung, als befänden sich noch zahlreiche Kriegsgefangene in französischen Händen, geht darauf zurück, daß Vie Zahl der Vermißten sehr hoch ist und häufig von Betrügern deren Angehörigen vorgespie gelt wird, sie seien mit der Uebermittelung von Nach richten eines heimlich zurückgehaltenen Verwandten be auftragt worden. Ueber die Zahl der noch in Rußland befind lichen Kriegsgefangenen ist die Ermittelungstütigkett icr deutschen Vertretungen noch nicht abgeschlossen. Der Konsul in Nowo-Nikolajewsk berichtet von den rutonomen Republiken der Kirgisen, Jakuten und Bur- jätmongolen, sowie aus dem Uralgebiet, daß die über sie dort befindlichen Deutschen eingeforderten Listen aon den Sowjetbehörden noch nicht eingereicht wurden. Es ünd aber alle Maßnahmen getroffen, um die Kriegsgefangenen zu ermitteln und heimzuschasfen, wo- »ei die Lowjetbehörden bereitwillig ihre Unterstützung Mgesagt haben. Man kann sagen, daß die Möglichkeit, auf Reichskosten heimgeschaft zu werden, jetzt jedem Kriegsgefangenen bekannt ist, und daß diejenigen, die sich noch in Rußland aufkalten, dort bleiben wollen. Unter diesen sind Leute, die trotz aller Bitten ihrer Angehörigen von der Hetmbeschaffungsmöglichkeit kei nen Gebrauch machen wollen. In einzelnen Fällen haben Gefangene sogar jeden Schriftwechsel mit dem Konsulat abgelehnt. Hiernach hält sich unfreiwillig kaum noch ein Kriegsgefangener in Rutzland auf. Die Zahl der Kriegsgefangenen, die freiwillig in Rutzland geblieben sind, läßt sich nicht angeben. Scherz und Ernst. U. 401 30V Dollar für 31 Bilder wurden in New Mork auf einer Versteigerung als Erlös erzielt. „Die Badenden der Borromeischen Inseln" von Corot gingen für 60 000 Dollar in anderen Besitz über. Zwei weitere Bilder des gleichen Malers „Reiter in der Landschaft" und eine andere Landschaft fanden für 30 000 Dollar bzw. für 27 000 Dollar einen Liebhaber. Des Malers John Crome ,Meidenbaum" wurde mit 47 000 Dollar bezahlt. U. Elektrizität als Berteidigungsmittel. Wie aus Gelsenkirchen gemeldet wird, ist es einem dortigen In genieur gelungen, einen Apparat zu bauen, der mit hochgespannten Jnduktionsströmen versehen ist und je den Gegner durch die leiseste Berührung kampfunfähig macht. U. Glas, das nicht splittert. Einem österreichi schen Chemiker ist die Erfindung einer neuen Glasart gelungen, die nicht splittert, sondern mühelos gebogen und willkürlich gebrochen werden kann. Das Patent ist angeblich von England erworben worden. Die neue Erfindung soll in erster Linie bei der Automobil- tndustrie zur Anwendung kommen. Neben dem Vor- teil, daß die neue Glasart genau so durchsichtig ist wie die seither bekannte Art, kommt als besonders wichtig noch in Betracht, daß das neue Glas nur halb so schwer ist als das bisher übliche. tk. Bubikopf und Erwerbslosigkeit. Nach einer Meldung aus Peking hat die Mode ves Bubikopfs ins gesamt 18 000 Chinesinnen um ihre Vcrdien'tmöglich- keit gebracht. Die Chinesinnen waren früher mit der Verfertigung von Haarnetzen beschäftigt, deren Her stellung sich heute nun erübrigt. tk. Für Briefmarkensammler! Die italienische Postvcrwaltung wird zur 700-Jahrfeier des Heiligen Franziskus von Assisi in diesem Jahre Jubilnumsmar- ken von 20, 40, 60 Centesimi und 1,25 und 5 Lire herausgeben. Was mancher nicht weiß. Aus der Erbe gibt es 00 Millionen Menschen, die di« deutsche Sprache sprechen. Davon leben 62,6 Millionen im deutschen Reichsgebiet. Die GcsaMtbewohnerzahl der Erde wird znrzeit ans j 1620 Millionen geschätzt. I * ! Statistiker behaupten, daß die Zahl der Erdbewohner j jeden Tag um 60 000 steigt. * In China werden an den Theater» die FrauenroNen von Männern gespielt. , * > Das Gewicht des menschlichen Herzens belänst sich ayi Ml bis 370 Gramm. ! * Vor mehr als 3M Jahren, nämlich im Jahre 1618, find > die ersten Bananen In Europa eingeführi worden. * - Smutje. Von Margarete Ho-t. INachdrnck verbotene Wen»l die Kinder zum Schlittschuhlaufen gehen j »nutz ich an ihn denken. . . . An einem Sonntag vormittag kam er zum ersten - mal zu mir. Seine Mutter hatte ihn mit einem Brief > geschickt, tn dem sie mich bat, ihm Nachhilfestunden zu erteilen. Verlegen stand er in seinem sauberen Ma trosenanzug an der Tür und drehte warten- seine rote Schülermütze in Len Händen. Ich überlegte, ob ich Zeit haben würde, mich täglich mit ihm zu beschäftigen „In welchen Fächern fühlst du dich schwach?" Statt der Antwort zuckte er fast unmerkbar mii ! den Schultern und fak ängstlich zu mir auf. ' Ein inniges Erbarmen wurde in meiner Seele wach, als ich den Kleinen betrachtete. Die dünnen, blassen Finger, das graue Gesicht mit dem unkindlichen Zug um den Mund, der scheue Blick in den müden Augen und die hilflose Haltung, — alles deutete mir an, daß ich keinen gesunden, glücklichen Knaben vor , mir hatte. ! „Komme morgen abend um sechs Uhr! Mit Seiner Mntter werde ich tn den nächsten Tagen das Weitere besprechen." Und er kam. .Er brachte Teer- und Fischaeruch in mein stilles Zimmer. Wo war der hübsche Matrosen anzug, in dem ich ihn zuerst gesehen hatte? Meistens trug er nun einen gestopften und durchlöcherten grauen Sweater und bot darin den Anblick einer armen, ver- , kommenen kleinen Gestalt. ' Seine Arbeiten waren unglaublich. Eselsohren, Fettflecke, Kleckse über Kleckses Fünfzehn, zwanzig, i fünfundzwanzig Fehler! „Junge, Junge, so nimm dich doch endlich zusam- ' men'" Scheu sah er mich von der Seite an, wenn ich die Geduld verlieren wollte. Manchmal duckte er sich, als wenn er Schläge erwartete. Es dauerte lange, bis er zutraulich und gesprächig wurde. Ganz verlor sich die Gedrücktheit seines Wesens und seiner Haltung über haupt nicht. Und Fortschritte? Ach, die blieben aus. Oft war ich entschlossen, ihn fortznschicken. Nur seinen guten Eltern zu Liebe arbeitete ich weiter mit ihm. > Der Winter zog ins Land, und die Tage wurden ' dunkler und dunkler. Jeden Tag fühlte Ich mich, ehe ! mein Schüler da war, von einer leichten Unruhe er griffen. Dann lauschte ich wohl hinaus in Regen, > Wind und Finsternis, ob die Gartenpforte noch nicht ? znschlug, und ob noch keine Schritte über den Kies kamen. Oft trieb cS mich hinaus in Sturm nnd Wetter, dem Kinde entgegen. Am Anfang der winkeligen Fischerstrabe, wo die Stadt eigentlich erst beginnt, trat gewöhnlich eine kleine Gestalt auf mich zu. Undeut lich erkannte ich sie im spärlichen Lampenschein, -er ! durch eins der niedrigen Fenster drang. „Bist du es, Klans?" . Ein Taschenlaternchen lieb dann sein Licht auf- bliyen. Der Junge stand still und nahm trotz der Dunkelheit artig seine Mütze vom Kopf Eine kleine regenfeuchte Hand ruhte einen Augenblick in der meinen, und bann gingen wir gemeinsam durch den Abend meinem Hellen, warmen Zimmer zu. ' Wie gewöhnte ich daß Kind an Ordnung und Sau berkeit? Es war stets willig, zeigte immer ein tadel loses Betragen, und doch kam es mir manchmal so vor, als wenn ich gegen passiven Widerstand zu kämpfen i hatte „Was willst du später einmal werden, Klaus?" fragte ich einst. Er lächelte mich an. „Schiffskoch." „Also ein Smutje! So neuut man ja wohl auf den Schiffen den SpeNemeister " Und daraus hielt ich ihm einen Bortrag darüber, daß ein Koch sich ganz besonders bemühen müßte, in jeder Weise adrett, appetitlich und blitzblank zu sein. „Smutje" nannte ich ihn seitdem. Wenn keine Stunde beendet war, ging er meistens nicht gleich nach Hanse Dann wartete er geduldig aus Lieschen, unser Dienstmädchen. daS tagsüber bei uns im Hanse hals nnd sich regelmäßig gegen sieben Uhr abends tn ihre elterliche Wohnung begab Es paßte ja gut, daß sie den Jungen mitnehmen konnte „Smntie, Snintje", riefen die Kinder meiner Wir tin, sobald sie merkten, daß Klans seine Schreibutensi lien znsammenpackte. Dann guckten sie -nrchs Schlüsselloch, kamen auch wohl ins Zimmer, zupften und pufften ihn und zogen und schubsten ihn schließ lich in die Wohnstube nebenan. Oft lag er balgend mit ihnen auf dem Teppich, und die unruhigen kleinen j Geister, zwei Bübchen und ein Mädel, ließen dabei eine Art Jndianergeschrei ertönen. Einmal fand sich Smutje bei mir ein, als ich ge rade auf meiner Geige übte. „Das ist leicht. Das kann ich auch," sagte er. Da reichte ich ihm meine Fiedel, und er spielte SaS Stückchen glatt nnd mit anerkennenswertem Ausdruck herunter. „Gut, mein Junge," lobte ich ihn. „Weißt du was?» Bringe doch znr nächsten Stunde -eine Geige mltt Dann spielen wir beide zusammen." Dazu brauchte ich ihn nicht zweimal aufzuforderu. Seitdem musizierten wir täglich ein halbes Stündchen, nachdem wir uns mit englischer und französischer Grammatik, mit Mathematik und Physik und ander« Wissenschaften geplagt hatten. Seine blassen Wange« röteten sich vor Eifer, und seine sonst lo müden Ange« blitzten vor Lebenslust, wenn er spielte. „Es murmeln die Wellen, es säuselt der Wind..." Der Bogen strich zärtlich, innig und leise, wie schmeichelnd über die Saiten. In dieser Zeit vermitzte ich eines Abends eine« Geldschein. Es handelte sich um fünf Mark, die auS meiner Handtasche, die aus meinem Schreibtisch z« liegen pflegte, verschwunden waren. Ich hatte die Tasche nur im Zimmer gehabt, das Geld mutzte als» dort herausgenommen sein. Aber von wem? Unser Lieschen war die Ehrlichkeit selbst. Der Fall war. j rätselhaft. i Nach einigen Wochen, als ich mein verlorenes > Geld schon fast vergessen hatte, kam eines SountagS Christel, eine meiner früheren Schülerinnen, die be- ! reits in der nahen Stadt, wo auch Klaus zur Schul« ging, das Gymnasium besuchte, zu mir. „Wissen Sie denn schon, daß Klaus Kruse z« Ostern voll der Schule gewiesen wird?" fragte sie mich im Laufe der Unterhaltung. „Klaus? Vo,l der Schule gewiesen? Warum denn?" „Er hat gestohlen. Sein Vater will ihn nun hier in Sie Volksschule schicken." Ich war starr vor Ueberraschung. „Klaus! Gestohlen?" „Ja, er hat einem seiner Mitschüler Geld ent wendet. Es ist überhaupt eine böse Geschichte mit ihm. Seinem Vater soll er manchmal Geld aus der Laden- lasse nehmen und sich Zigaretten oder was er sonst haben will, dafür kaufen." Allo Klaus! Ich dachte plötzlich an mein ver schwundenes Gelb. Nnn erinnerte ich mich, datz ich an jenem Abend, als ich es vermitzte, gerade in -er Küche beschäftigt war, als der Kleine znr Stunde kam, und da war er einige Minuten allein in meinem Zimmer gewesen. Die Entdeckung machte mich traurig. Datz der Junge körperlich schwach war, wntzte ich ja. Er war also auch moralisch nicht auf -er Höhe. Daher sein» scheue Art, sein gedrücktes Wesen! Ich wartete auf eine Gelegenheit, «m einmal ernsthaft mit ihm über Geldwegnehmen und Zigarette >- rauchen zu sprechen, aber sie fand sich nicht gleich. Wozk aber fragte mich Klaus eines Tages, ob ich ihm nach Ostern noch weitere Stunden erteilen würde, da er das Gymnasium verlosten sollte, aber doch mehr lexn-m möchte, als ihm der BolkSschulunterrtcht geben konnte. „Es ist Vater zu teuer, mich auswärts auf Schule zu haben." Er sah krampfhaft zu Boden, als er daS sagte, uirh vermied meinen Blick. Dann kam ein Sonnabend im Februar, den ich niemals vergessen werde. Mein kleiner Schüler saß vor mir und schrieb. Meine Augen ruhten auf seinem blassen Gesicht, ver suchten, in den Zügen zu lesen, um sei«''« Charakter zu erforschen. War er wirklich ein Dieb? „Moralisch schwach! Du armes Kind!" dachte ich. „Wenn du groß bist, werden die Versuchungen noch anders an dich herantreten als heute. Und du wirst unterliegen, immer unterliegen. Nnd bist doch sonst nicht schlecht. Ach, dann weinst dn verzweifelt und schreist znm Himmel nm Gnade und Bergebnna. willst tausendmal ein nenes Leben beginnen nnd fällst doch wieder dem Verbrechen anheim. Oder dem Laster. D« armer, armer Junge! Du hast gewitz ein schweres Leben vor dir." Ick war milde an jenem Abend, sprach so sankt un liebevoll mit ihm, -aß er mich ganz erstaunt ansah. „Morgen darf ich auf's Eis," erzählte er, als ev seinen Schulranzen packte. „Ich habe ja Schlittschuhe zu Meihnackten bekommen, und dte sollen morgen ein- geweiht werden." „Smntie, Smutse," riesen die Kinder, als er fort ging. Er hörte nicht auf sie, er wartete auch nicht auf Liesche». An jenem Abend fürchtete er sich nicht vo» dem dunklen Weg nach Hause, deuu sein Herz war voll Freude. Er dachte an den nächsten Tag. DaS sollte ein schöner, ein ganz besonderer, ein wunder voller Nachmittag werden, morgen auf dem Eis. Ich saß und träumte dem Kinde nach. Sets» Stimme klang mir noch im Ohr: „Morgen —" Am andern Abend war mein kleiner Freund tot. Eine Bekannte meiner Wirtin, dte uns zum Kaffe» besuchte, brachte die Nachricht von dem Unglück mit» Auf dem Binneuwasser war es gewesen! Dort be lustigten sich die Kinder mit Schlitten und Schlitt schuhlaufen. Klaus wagte sich weiter als alle ander» und lief dem Fahrwasser zu, dem sogenannten ström, der gewöhnlich für die Schiffe eisfrei gehalten wurde und nur ganz teicht überfroren war. „Klaus, dort hält das EtS nicht!" ries man ihm warnen- »aw.