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Z ü R E I N F Ü H R U N G Der 1901 geborene Schweizer Komponist Adolf Brunner ist bei uns noch fast unbekannt. Er studierte in Berlin und Paris und gibt schon damit seine Haltung zwischen Deutschland und Frankreich, die vielen Schweizern eigen ist, kund. In seinem zweiteiligen Concerto grosso für Streichorchester und Pauken greift Brunner auf die modische Gepflogenheit vieler zeitgenössischer Komponisten zurück, sich stilistische Anregungen bei barocken Vorbildern zu holen. In der formalen Gebundenheit seiner Tonsprache folgt er Hindemiths Spuren, im Klanglichen sind französische Einflüsse nicht zu überhören. Der erste Teil, ein Maestoso im Sechsachteltakt, ist aus den rhythmisch scharf akzentuierten Akkord schlagen des Anfangs entwickelt worden. Auch das ist barockes Handwerk: aus einer Keimzefle einen ganzen Satz aufzubauen. Neben dem Tutti. also dem Gesamteinsatz des Streichorchesters, stehen zwei Soloviolinen als Concertino, die vor allem im zweiten Teil größere solistische Aufgaben haben. Dieser Satz, im Allegro, ist mit rhythmischen Eigenheiten gewürzt, mit Taktwechsel, der Schwerpunkt verschiebungen nach sich zieht, mit Svnkopierungen und eigenwilligen Akzentsetzungen. Auch the matisch ist er vielgestaltiger, da die Soloinstrumente mit ihren Spielfiguren sich vom kompakten Tutti deutlich abheben. Brunner spricht eine klare, kräftige Sprache, die man gern und mit einer gewissen Berechtigung wegen ihrer barocken Diktion mit der Wirkung herber, mittelalterlicher Holzschnitte ver gleicht. Der Einsatz der Pauken unterstreicht diese kantige, eigenwillige Musik, die am Schluß noch einmal frei aufatmet in breiten, kadenzähnlicheri Melismen beider Sologeigen, um dann abrupt mit dem charakteristischen Tuttithema des Beginns des zweiten Satzes zu schließen. Tschaikowskv widmete sein weltberühmtes Klavierkonzert b-moll, op. 23, Hans von Bülow. Es ist interessant, zu wissen, daß er dieses geniale Werk in unmittelbarer Nachbarschaft vor den lyrischen Szenen ,,Eugen Onegin“, op. 24, geschrieben hat. In dem Konzert kommt Tschaikowskys Temperament stärkstens zum Ausdruck; neben urrussischer Sehnsucht steht eine alles überwältigende Wildheit, neben volkstümlicher Schlichtheit und Echtheit macht sich manchmal das breite, pomphafte und verschwende rische Leben der damaligen bürgerlich-adligen Gesellschaftsschichten, denen Tschaikowskv angehörte, bemerkbar. Tschaikowsky war in formalen Dingen des musikalischen Handwerks ein bedeutender Könner; und da es ihm gelang, auch das Gefühl zu Worte kommen zu lassen, ohne daß es die Form über wucherte, könnte man ihn beinahe einen Klassiker nennen — wenn nicht seine Tonsprache durch ihre stilistischen Merkmale klar zur Romantik neigte. Er nützt in dem Konzert alle Möglichkeiten der piani- stischen Technik aus: vollgriffige Akkordfolgen, harfenartige Akkordbrechungen, virtuose Läufe, ge hämmerte Oktavgänge, gesangliche Melodienführungen, Überkreuzungen der Hände, Sexten-, Terzen- und Quartengänge, dazu die ganze Verzierungstechnik ist in überreichem Maße über dieses von Einfällen überquellende Werk ausgegossen. Der ausgedehnte erste Satz ist trotz seiner Einschübe von lyrischen Episoden nach der klassischen Form des Konzertes gebaut: ein großartig-majestätisches erstes Thema wird abgelöst von einem empfind samen , lyrischen Thema, das den stärksten Gegensatz bildet. In der Auseinandersetzung dieser Kon traste erschöpft sich dann dieser gewaltige Satz, in welchem eine große Kadenz dem Solisten Gelegenheit gibt, sein Können nach allen Seiten hm schillern zu lassen. Schlichte, aber innige Melodien erklingen in langsamen zweiten Satz, die nach allen Möglichkeiten hin verändert und variiert werden. Dieser Satz ist kammermusikalisch instrumentiert und bildet dadurch ein Gegengewicht gegenüber dem orchestralen vollen Klang sowohl des ersten, als auch des nun folgenden dritten Satzes, der mit Feuer und'tänze rischer Leidenschaft abrollt. Durch seinen mitreißenden Schwung und die prachtvolle Brillanz, durch seinen stürmischen Optimismus überzeugt er jeden Menschen von der Fülle des Daseins, die sich Tschai kowsky aus dem überquellenden Born seines Volkes schöpfen konnte. Die 1. Sinfonie von Serge Raehmaninoff, op. 13, die nicht so bekannt geworden ist wie seine zweite, steht in d-moll. Seit Beethoven verpflichtet diese Tonart, da in ihr das Höchste auszusagen möglich ist. Raehmaninoff ist sich dieser Verpflichtung sehr bewußt, er bemüht sich ebenfa’ls um Ausdruck humaner Belange, die er als Spätromantiker in der Darstellung menschlicher Leidenschaften, Gefühle, Emp findungen und aller Seelenregungen zu verwirklichen sucht. Seine 1. Sinfonie ist eine heroische Sin fonie, die gleich mit den ersten Tönen diese Grundstimmung des heldischen Tatendranges, aber auch eines schicksalhaften Waltens anschlägt. Der 1. Satz beginnt mit einer kurzen breiten Einleitung, in der das Schicksals- und Heldenmotiv mit dem charakteristischen Vorschlag und dem kraftvollen Themen beginn sofort aufklingt. Raehmaninoff gibt der gesamten Sinfonie eine einheitliche Grundhaltung, indem er dieses Motiv zum wesentlichen und wichtigen Baustein für alle vier Sätze macht. Gleich zu Beginn des zweiten Satzes (allegro animato), der die Stelle des Scherzos einnimmt, ertönt der auftaktige Vorschlag; im Larghetto, dem dritten Satz, erinnert immer wieder dieser dunkle Ruf an das Walten des Schicksals, während im Schlußsatz dieses Motiv ins Kämpferisch-Heroische gewendet wird. Dieser Schlußsatz, ein „Marciale“, beginnt mit einem ungeheuren Aufwand des gesamten Blasorchesters, das von einem recht stark besetzten Schlagzeugensemble unterstützt wird, womit Raehmaninoff gewaltige Wirkungen erzeugt. Er schiebt jedoch eine größere Episode tänzerischen Schwunges ein, an die sich eine Coda anschließt, die sich aus dem heroischen Thema entwickelt. So erzielt Raehmaninoff einen sehr geschlossenen Eindruck, der noch durch sein formales Können veistirkt wird, mit dem er die Form der Sinfonie im ersten Satz meistert. Zu beachten ist außerdem seine instrumenta torische Kunst, die das Werk in ein wohlklingendes, samtenes Gewand kleidet. Raehmaninoff starb 1943 als amerikanischer Staatsbürger. Er war gebürtiger Russe und neigte als Komponist zur Tonsprache Tschaikowskys, die merklich von der deutschen Sinfonik beeinflußt wurde — der realistischen Ausdruckswelt Mussorgskys stand er ferner. Er vertrat das kosmopolitisch denkende Bürgertum der Welt vor dem ersten Weltkriege — es kam ihm darauf an, überall verstanden zu werden, was ihm dank seiner romantisch-bürgerlichen Tonsprache denn auch gelang. Johannes Paul Thilman