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LYRIK UND PROSA „HOCHSCHULSPIEGEL" 16/17/80 — SEilE 6 Roswitha Mittelstädt Immer wieder brechen wir auf sprengen den alten Horizont wie ein zu eng gewordenes Hemd auf der Suche nach neuen Welten in uns Hans Brinkmann i. Absitzen vom LO, Schlagbaum zu- knallen! Weißt du, was das für ein Gefühl ist: nie wieder Grenzgebiet. Übermorgen geht’s heim. Fort, Mensch, das waren volle drei Jahre. Ach, ich hab das nie leiden können, wenn sie dir sagen: Komm du erst mal zur Armee! Mann, was erzählt man dir alles: Entbehrungen, Ent behrungen hab ich durchgemacht, und gedrückt hab ich mich bei jeder Gelegenheit. Warum bin ich 3 Jahre zur Fahne gegangen? Mensch, ich hatte schon nach einer Woche die Schnauze voll, und anderthalb hätten mir gereicht. Aber dann bin ich eben doch dabei geblieben. Warum? Frag nicht, drei Jahre sind lang, genug Zeit, um das zu vergessen. Viele gehen : wegen ihres Studienplatzes, auch wegen der Moneten, wegen — ach, was weiß ich. Kann sein, daß ich von zu < Hause weg wollte oder so. Ist ja auch egal. I. Weiß noch, als wir ankamen. Eine Horde Zivilisten, die marschierten die Straße hoch. Hinter : uns knallte der Schlagbaum zu. Eine Militär kapelle spielte. Es war schon dunkel. Und wir traten auf dem Exerzier platz an. Wenn du da am Rand stehst, siehst du, wie sich die Erde krümmt, so ein Ding ist das. Jemand hielt eine kurze Rede, so ’ne Art Be grüßung. Dann ging’s los. Antreten, Wegtre ten, Achtung, Weitermachen, könn’ Sie nicht grüßen, Raustreten, Fertig machen, Vorzeigen, Stillgestanden, im Laufschritt, im Gleichschritt, nehm Sie’n Schritt auf, sind wir hier im Zirkus, woll’n Sie diskutieren, passen Sie auf, wir sind hier nicht bei der Gewerkschaft, überprüfen Sie sich, überprüfen Sie Ihre Anzugsord nung, Stellung, auf, treten Sie weg! Joachim Schirmer Wunsch Du sollst nicht in mir blättern sondern Seite um Seite lesen Freilich mein Titel verrät nicht gleich alles Kein Gedanke die letzte Seite vorwegzunehmen Und bitte leg mich nicht aus der Hand Auch nicht III. Nachrichtenmann ist ein undank barer Job. Du bist als Gammler ver schrien bis an dein Lebensende und weißt nicht, wofür. Dabei hab ich damals geschuftet. Wenn die Silber- zinkakkus zu laden Waren, beispiels weise, 12 Stunden, 18 Stunden lang jede halbe Stunde nachgemessen, ge gen Ende jede Viertelstunde. Dabei hab ich versucht, den Laden noch in Ordnung zu halten, das verlorene Werkzeug wieder ranzuschaffen, die Wooling kaputte OB-Technik wieder in Schuß zu bringen ... Und dann kommen noch welche, die sagen: „Was macht der denn den ganzen Tag? Der gammelt nur ’rum. Andere machen harten Grenzdienst, und der sitzt in seiner Bude, im Kel ler. wo ihn keiner sieht, und läßt den lieben Gott einen frommen Mann sein.“ Und natürlich kommt dann auch gleich: „Und der regt sich noch auf, wenn er mal ein Funkgerät nicht gleich vor die Tür gesetzt be kommt!“ — „Faule Sau!“ IV. Draußen gibt, der Kompaniechef den Befehl zum Grenzdienst: „. ..be fehle den Schutz der Staatsgrenze unter allen Lagebedingungen mit der Aufgabe..Seltsam, daß ich den Spruch nicht mehr auswendig im Kopf hab. Der Alte ist noch nicht lange Kompaniechef. Ich weiß nicht, wann wir angefangen haben, ihn nicht mehr den Neuen zu nennen. Er ist Oberleutnant. Fünfundzwanzig Jahre alt. Unser Alter war Major. Als er aus dem Urlaub kam, damals kam er schon morgens zu mir in die Werkstatt, fragte mich, ob’s Pro bleme gibt. Ich wollte nicht gleich mit der Sprache 'raus, hatte doch noch Schiß vor jedem Offizier, noch von der Unteroffiziersschule her. Aber der konnte sich schon vorstel len, wo mich der Schuh drückt: „Laß dich nicht unterkriegen!“ sagte er. Er redete alle mit du an, wenn er nicht gerade vor der versammelten Mannschaft sprach oder jemanden zusammenstauchte. Mann, das war ein Offizier! Der hatte’s nicht bloß auf den Schultern, der’ hatte’s auch im Kopf und im Blut. Wenn der einen zusammenschiß, wußte man: Das war verdient. „Ich deck euch alle“, sagte der, „ich laß euch alle Freiheiten. Aber ich deck euch ein, wenn einer seine Pflicht und Schuldigkeit nicht tut. Wir haben alle ein besseres Leben verdient; ich wäre auch. lieber in Dresden bei meiner kranken Mutter, aber da ist keine Grenze, und wir werden dort in den nächsten Jahren auch keine hinbauen. Also reißt euch zusammen. Wenn hier einer denkt, er kann auf Kosten der anderen le ben. der läuft Kreise.“ Bei dem wa ren die Fronten klar, der sah voll durch. V. Grenzalarm, das ist was Schlim- mit dem Gefühl der Dankbarkeit Ingeburg Klippel Aufbruch Möchte als Entdecker reisen wie mein Stift auf blauen Gleisen Wenn die Gleise sich verzweigen muß ich halten schauen schweigen. . . Kenne welche die beschrieben viele Jahre viel Papier Ihre — meine Weichen blieben und die Hebel blieben mir Baustelle Thomas Heinsch ■ Ich traf ihn auf einer Baustelle. Er fuhr dort einen Kleintransporter. Wir brachten Betonteile vom Abla deplatz an die Straße. Hatten wir die Teile aufgeladen, fuhr- er los, wäh rend ich (wegen der Sicherheitsbe- stimmungenj laufen mußte. Es waren vielleicht vierhundert Meter. Es war warmes Wetter, und wir schwitzten. Ich rannte fast, aber wenn ich end lich ankam, hatte er jedesmal schon zwei oder drei der schweren Teile von der Ladefläche gezerrt. Sein Atem ging stoßweise und eigenartig fiepend. ■ , Ich sagte zu ihm: „Wühle doch nicht so, das hat doch keinen Sinn. Warte wenigstens mit dem Abladen auf mich!“ Er antwortete: „Eigentlich hast du recht. Das Abladen bekomme ich ja nicht einmal bezahlt, seitdem wir die 15 Pfennig Zuschlag nicht mehr krie gen. Aber ich bin es so gewohnt.“ Dabei schuftete er weiter. „Nun mach doch wenigstens eine Pause, du machst dich doch kaputt.“ „Du meinst, wegen meiner Lunge? Schwitzen würde ich bei dem Wetter sowieso.“ Wir schleppten die schweren Teile, und seine Atemzüge klangen wirk lich furchterregend. Er sah mich an, lächelte und beruhigte mich: „Meine Lunge quietscht immer so, das ist völlig ungefährlich. Das stammt noch aus dem Krieg.“ „Aus dem Krieg?“ „Bei Smolensk hat es mich er wischt.“ Dabei wuchteten wir ein Teil nach dem anderen von der La ¬ defläche. Meine Hoffnungen auf eine kleine Pause schrieb ich langsam ab. „Ein Russe. Schade, daß ich nicht weiß, ob er noch, lebt. Und. wo.“ Er schwieg. „Ach“, dachte ich, „wieder so ein Übriggebliebener.“ Ich fühlte mich unbehaglich. Jetzt noch irgend welche Tiraden der üblichen Art . . . Da kam es auch schon: „Weißt du, was ich mit dem machen würde, wenn wir uns heute träfen?“ Er sah mich erwartungsvoll an. „Ich Würde ihm mächtig einen ausgeben.“ „Wenn er wollte“, setzte er leise hinzu. Ich muß wohl ziemlich dumm ge guckt haben. „Nun heb schon an und glotz nicht so“, verlangte er barsch, „durch den hab ich den Krieg über lebt.“ (Auszüge) mes. Nachts, 'raus aus’m Nest, wenn du eingeteilt bist, ’rein in die Kla motten, ’runter, schnapp dir deine Kaschi in der Waffenkammer, dann ins Fahrzeug, dann los, Schlagbaum auf! Befohlene Punkte besetzen, Vollzug melden. Dahn starrt alles in die Nacht. Weißt du, wie sich ein Wald nachts anhört? Weißt du, wie ein Igel klingt, der durchs Unterholz rappelt? Klar, keiner ist allein, es gibt immer Postenpaare. Weißt du, daß sich zwei doppelt fertigmachen können? Außerdem ist immer Ernst. Wir haben’s damals im Radio ge hört. als das bei Hildburghausen pas sierte. als dieses Schwein die zwei Grenzer erschoß. „Ruhe!“, der Alte schlug auf den Tisch damals, der Ma jor. Wir saßen im Klubraum. Diese Nachricht. Der Alte stand auf, alle standen, keiner sagte ein Wort. Der Major war kreidebleich. Dann drehte einer das Radio ab. Da ging der Alte, seine Schirmmütze in der Hand, langsam in sein Dienstzimmer. Er hat dann noch zu uns gespro- chen. Nur ein paar Worte. Aber wir wußten auch so, worauf es jetzt an kam. Da sind zwei auf Posten gezogen wie jeden Tag, der eine war Gefrei ter der andere Soldat. Die haben ih ren Dienst gemacht wie jeder andere. Und einer ist da unterwegs, den Fuß auf dem Gaspedal, die Knarre bei der Hand. Der will nicht zahlen für das, was er genommen hat. Der hat immer nur genommen. Was hat da unter uns gelebt? Wo kommt das her? Wo geht das hin? Freiheitskämpfer werden sie ihn drüben nennen, diesen kleinen Ga noven, der aus Feigheit schießt, ohne bedroht zu sein, aus Feigheit, von hinten, als erster, bis sich nichts mehr rührt. Zwei Leben für das. Und er hat nicht gezögert, nicht gezuckt. Wie im Western: wer als er ster zieht... Für den Kerl war Krieg. Und wenn den ein Gericht frei spricht, dann erklärt es uns auch den Krieg, mitten im Frieden, eiskalt. < Wir haben ’ne ganze Weile ge- braucht. um über den Schock wegzu kommen. In den ersten Wochen steckte uns alles noch in den Kno chen. Keiner traute sich auch nur die kleinste Nachlässigkeit. „Lernen müßt ihr draus“, sagte unser Alter, „lernen, sonst war’s umsonst.“ Joachim Schirmer Der hochstaplerische Bleistift Ich bin nicht irgendeiner, nicht so ein allgemeiner unbedeutender Stift, denn ich schreib eine besondere Schrift. Ich bin der Bleistift des Brigadiers — und ich häng infolge meines Effets hintenan manche Null. Ich bin unter den Bleistiften der Felix Krull. Christian Hofmann Ode eines FDJlers an die Neue Berliner Illustrierte o Neue Berliner — du farbenreiche! Wenn's dich nicht gäbe, schlecht stünd's um die Agitation. Woher denn sonst nehmen Abbildungen, Meinungen, Losungen, Buchstaben. Aufruf, Verpflichtung und Stellungnahme? Womöglich noch selber schreiben, wie? Davor behüte uns das Zentralkomitee Du — Neue Berliner sei uns gepriesen. Du schmückst unsre Wandzeitung und das Brigadetagebuch in aller Herrlichkeit. In Ewigkeit. Amen? Roswitha Mittelstädt Signale Langsam eingefahren das Gleis des Lebens. Meine Hände ähnlicher jetzt den Händen der Mutter. Geregelt der Tag, die Weichen gestellt — Nur manchmal noch halt ich auf freier Strecke oder spring aus den Gleisen. Mark Sergejew Menschen (deutsche Nachdichtung: Gabriele Berthel) Wenn ich am Morgen zur Arbeit eile packen sie meinen Mantelknopf polemisieren über die flora des mars erdbeben in japan daß heuer ein später frühling wär Sie wollten wohl von sich erzählen. : . Am Abend erst begreif ich das wenn Knopf für Knopf ich an den Mantel flick Silvia Pielorz Christian Heckel So will ich gehen so wie ich gekommen, will ich gehen: auffällig, vielleicht auch beweint, bezwungen von meinen weichen wiesen, von meinen Schutthalden, doch jetzt noch nicht! später, viel später, und nie, bruder, will ich gegangen worden sein. Hans Brinkmann Freundliche Sie kennen dich nicht, aber sagen: „Setz dich zu uns und iß.“ Und sie. sehn, daß es dir schmeckt, und meinen, du hast es verdient. Dann gehst du fort von da und verdienst es. Die Bude Daß Menschen darin sind, macht das Haus wohnlich — für Fremde, für Freunde ... Die Schwelle ist abgetreten vom Kommen und Gehen. Für den Müden sind Decken, für den Hungrigen Bücher und Brot. Daß wir einander und Wärme suchen, läßt uns noch in den Nächten beisammensein — im alten Haus mit den Fenstern: viel zu klein. Gabriele Berthel Clown kinder für euch mach ich Sachen die in keinem buche stehn (also Sachen die gar nicht gehn) kinder ihr müßt viel lauter lachen ich schlag kobolz und stolpre über steine (außer über kleine) manchmal fall ich auf meinen großen losen münd na und? denkt ihr ich bleib liegen mensch kinder wer flennt denn da ich lern doch bloß fliegen Eine Seite Lyrik und Prosa, das ist natürlich nur ein kleiner Ein blick in die Arbeit des Zirkels schreibender Studenten und Mit arbeiter. So unterschiedlich wie die Arbeiten, wird auch der Ein- druck beim Lesenden und Hören den sein. Zustimmung oder Kritik werden sie herausfordern. Wir stellen heute Arbeiten vor, die aus dem literarisch-musikali schem Programm „Immer wieder brechen wir auf“ entnommen wurden. Dieses Programm wurde gemeinsam mit dem Zirkel schrei bender Arbeiter des Fritz-Hek- ckert-Werkes Karl-Marx-Stadt gestaltet und bei den 18. Arbeiter festspielen in Rostock mit einer Goldmedaille ausgezeichnet.