Volltext Seite (XML)
ZUR EINFÜHRUNG Paul Hindemith ist 1895 in Hanau bei Frankfurt am Main geboren worden. Er gehörte jener Generation von Komponisten an, die nach dem ersten Weltkriege um eine Neu gestaltung der Musik rangen. Da sie allerdings die Neuerungsabsichten bei den Mitteln des Klanges und der Form ansetzten und nicht bei der Gestaltung eines neuen Lebensinhaltes, verloren sie sich oft in Experimenten, in Ismen und Modeströmungen. Hindemith ist zweifellos ein hochbegabter Komponist. Er trägt etwas Natürlich-Musikan- tisches in sich. Er hat sich auf allen Gebieten des Musikschaffens versucht und eine Fülle von Werken gestaltet, bei denen neben vielen Experimenten auch bedeutende und geniale Werke stehen. Hindemith hat nach 1933 Deutschland freiwillig verlassen, weil Hitler seine Werke ablehnte und sie infolgedessen verboten waren. Hindemith ging zunächst für mehrere Jahre in die Schweiz, später nach Amerika und schuf dort 1946 sein Requiem nach Ge dichten des fortschrittlichen Amerikaners Walt Whitman (1819—1892). Hindemith schreibt über dieses Requiem: ,,Für die, die wir lieben“. Er widmet es allen Opfern des zweiten Welt krieges. Whitman schrieb seine Verse unter dem Eindruck der Ermordung Abraham Lin- colns im Jahre 1865. Stimmung der Trauer durchzieht sein Gedicht — und diese Stimmung mag Hindemith bewogen haben, auf diese Verse zurückzugreifen. Das Requiem ist für Mezzo sopran, Bariton, Chor und Orchester geschrieben. Hindemith hat die Verse Whitmans selbst übersetzt. Das Werk ist abwechslungsreich und mit starkem Sinn für Aufbau und Steigerung ge schaffen. Nach einem Orchestervorspiel über einen durchgehenden Orgelpunkt auf dem tiefen cis beginnt ein Wechselgesang zwischen Bariton und Chor (,,Als Flieder mir jüngst im Garten blüht“). Das Sopransolo („Aus dem Ried singtein scheu verborgener Vogel sein Lied“) ist stark lyrisch und sehr verhalten, auch die Begleitung ist kammermusikalisch zurückhaltend. Ein feierlicher Marsch („Über die Hügel im Lenz“) wird vom Chor und vom Bariton vorgetragen. Die nächste Nummer („O Westgestirn“) ist so geschrieben, daß der Chor Worte des Solisten aufgreift und wiederholt, daß er sich auf einige Einwürfe beschränkt. Wiederum ist dem Sopran eine lyrische Weise in den Mund gelegt („Sing weiter, du im Ried, o zarter, schüchterner Sänger!“). Ein ruhiges Lied des Baritons schließt sich an („0 wie werd ich selbst denn besingen den Toten, mir so wert?“), das der Chor aufgreift. Den Höhepunkt des Werkes stellt zweifellos die folgende Chorfuge („Schau, Sinn und Verstand“) dar, die Hindemiths große Begabung für Polyphonie ins rechte Licht rückt. Das darauffolgende Duett vereinigt beide Solostimmen („Sing mehr, du Vogel dort!“). Der Chor schließt sich an mit dem Hymnus für den Tod in Form eines Chorals („Komm, lieber und sanfter Tod“). Der Bariton greift nochmals die lyrische Stimmung auf, die mit dem Vogel im Ried ver-