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Erst mit dreiundzwanzig Jahren ging Tschaikowski endgültig zur Musik als Haupt beruf über — in Fachkreisen oft noch völlig verkannt in seiner genialen Begabung. Ein einziger — Hermann A. Laroche, ein Studienfreund des Meisters, ein hervor ragender Musikkritiker, von Rimski-Korssakow als „russischer Hanslick“ bezeich net— wagte die erstaunliche Prophezeiung: „Ich betrachte Sie als das größte Musik talent des gegenwärtigen Rußland . . . Ihre eigentlichen Schöpfungen werden viel leicht erst in Jahren beginnen. Diese Schöpfungen aber werden alles übertreffen, was wir nach Glinka gehabt haben!“ Und tatsächlich wurde Tschaikowski schon im nächsten Jahrzehnt als berühmter Musiker Rußlands (er war zugleich Musikreferent der „Moskauer Nachrichten“) nach Bayreuth zur Aufführung des „Rings des Nibe lungen“ eingeladen, wo er Laroche, Cui, Rubinstein, Klindworth und andere Be kannte aus Rußland wiedertraf. Er berichtete seinem Bruder Modest 1876 darüber: ,,. . . meinem Künstlerherz und meinem Künstlerehrgeiz wurde mehr als einmal geschmeichelt. Es erwies sich nämlich, daß ich im Abendlande gar nicht so unbe kannt bin, wie ich glaubte ...“ Bayreuth sei weniger wegen des bitterbösen Urteils über Wagners „Ring“ vermerkt — „die Nibelungen mögen in der Tat ein groß artiges Werk sein, ebenso gewiß ist aber doch auch, daß es noch nie eine so lang weilige Faselei gegeben hat“ —, aber auf der Reise von Lyon nach Bayreuth hatte Tschaikowski den fünften Gesang des „Inferno“ (= Hölle) aus Dantes unsterb licher „Göttlicher Komödie“ gelesen, der ihn sehr ergriffen hatte, im besonderen die Illustrationen der Hölle von Dorde. Gleich nach der Rückkehr aus Bayreuth stürzte er sich in die Arbeit und konnte schon am 7. November 1876 seinem Bruder Modest schreiben: „Soeben erst habe ich eine neue Komposition vollendet: die Symphonische Phantasie ,,Francesca da Rimini“ (nach Dante). Ich habe mit großer Begeisterung daran gearbeitet und glaube daher auch, daß mir die Gestaltung der Liebe gut gelungen ist . . . “ Francesca da Rimini war im 13. Jahrhundert eine Art dramatischer Sensation. Sie war die ungewöhnlich schöne Tochter des Guido da Polente, eines Herrn von Ravenna. Sie wurde um 1275 an den häßlichen Gianciotto Malesta da Rimini vermählt, liebte dessen Stiefbruder Paolo, wurde mit diesem von ihrem Gemahl überrascht und getötet. Ihre dramatische Geschichte wurde später mehrfach dramatisch behandelt, so von Silvio, Pellico, P. Heyse, M. Greif u. a. Das Werk ist Programm-Musik, dreiteilig in der Form. Die Ecksätze vermitteln ein Bild der Hölle, Stereotyp-ostinatoartige Motivwiederholungen, die den Eindruck höllischer Qual vermitteln wollen. Der Mittelteil (Andante cantabile) schildert das kurze Glück, den unendlichen Schmerz Francescas und Paolos über ihre unglückliche Liebe mit Geigen, Harfe und Englischhorn. Doch nun „begannen herbe Schmerzens Laute“ — der dritte Teil ist eine gekürzte Wiederholung des ersten Teils, des Höllenplatzes! Der Partitur ist das „Programm“ vorangestellt: Dante gelangt in den zweiten Kreis der Hölle. Dort gewahrt er die Seelen derjenigen, die im Leben der Sinnenlust ergeben waren und deren Strafe nun darin besteht, im ewigen Dunkel für immer den furchtbaren Stürmen ausgesetzt zu sein. Unter diesen Unglücklichen erkennt er Francesca, die (eben im zweiten Teil des Werkes) ihre Geschichte erzählt.