Die Verbindung klassischer Formstrenge mit romantischem Empfinden ist bezeichnend für das Gesamtwerk von Johannes Brahms. Auch in der „Dritten“ finden wir diese echt brahmsische Eigenart künstlerisch überzeu gend geformt. Der ungewöhnlich konzentriert gestaltete Anfangssatz bringt ein Kernmotiv, aus dem das energiegeladene Hautpthema mit seiner zwi schen Dur und Moll schwankenden Spannung abgeleitet wird. Der große Tonumfang und der punktierte, fast unruhig wirkende Rhythmus stellen einen starken Kontrast zum liedartigen Nebenthema dar, das von der Klarinette „gesungen“ wird. Die Themenaufstellung nimmt einen breiten und auch inhaltlich gewichtigen Raum ein. Dafür wird die Durchführung bemerkenswert kurz gehalten. Männlich-kraftvolle Episoden wechseln mit lyrisch-meditativen Stimmungen. Es kommt jedoch zu keinen dramatisch heroischen Konflikten im Sinne Beethovens, und der aufmerksame Hörer wird den wenig treffenden, ja irrigen Vergleich von Brahms’ 8. Sinfonie mit Beethovens „Eroica“ sicher begreifen. Der zweite Satz, ein schlichtes Andante, läßt an Wilhelm Furtwänglers Worte (siehe Literaturhinweise) denken: „Brahms vermochte es, eine Melodie zu schreiben, die bis in die kleinsten Biegungen hinein sein Eigentum war und doch wie ein Volkslied klang.“ Die lieblich-versonnene Liedweise erscheint, immer neu verwandelt und variiert, gleichsam in wechselnder Belichtung. Klarinette und Fagott erinnern daran, daß es noch eine Welt schmerzlichen Nachdenkens gibt. Leise verklingt die Mahnung. Der dritte Satz ist kein Scherzo. Vielleicht eine sehnsüchtige Romanze? Ein Lächeln unter Tränen. Zart und traurig beginnen die Celli eine wundersam romantische Liedweise, die an die Melancholie slawischer Volkslieder denken läßt. Wir kennen die ähnliche Stimmung aus Rilkes wehmütig-nachdenk lichen Versen: „Mich rührt so sehr/ böhmischen Volkes Weise, / schleicht sie ins Herz sich leise, / macht sie es schwer. Wenn ein Kind sacht / singt beim Kartoffeljäten, / klingt dir sein Lied im späten / Traum noch der Nacht. Magst du auch sein / weit über Land gefahren, / fällt es dir doch nach Jahren / stets wieder ein.“ Das Finale: Sinfonischer Höhepunkt, Konflikte, Zusammenprall der Gegen sätze, Kampf und gewaltsame Auseinandersetzung. Rückgriffe auf Themen des zweiten und ersten Satzes runden das dramatische sinfonische Geschehen, das ruhig, friedvoll und gelöst verklingt. Furtwängler schrieb 1981 von der „Herbigkeit und Süße“ der brahmsisehen Musik, er schrieb von ihrer „äußeren Geschlossenheit und inneren Gelöstheit, von ihrer Phantastik und ihrem Überschwang und zugleich von ihrer Selbst zucht und strengen Größe“, und er nannte diesen Zusammenklang der Gegensätze „deutsch“. Die „Dritte“ von Brahms beweist uns, wie trefflich Furtwängler das Wesen dieser Musik charakterisierte.