Gustav Mahler hat seinen Sinfonien kein „Programm“ unterlegt. Seine Musik sollte als „Gleichnis“ verstanden werden, wohl auch „als musikgestaltetes Symbol — doch ohne Worte und ohne poetische Deutung“. Bekanntlich hat aber die Zeit, in der Mahler seine ersten Sinfonien schrieb, für Programmusik geschwärmt. Die „Ideen“, die durch Liszt und Berlioz in die Tonkunst eingeführt wurden, wirkten sehl- stark nach. Man glaubte, daß der neue „Ausdruck“ in der Musik leicüter erfaßt werden könne, wenn poetische Vor stellungen ihn stützten. Mahler — der Zeit strömung folgend — hat ebenfalls seinen ersten Sinfonien Uebersdiriften gegeben, die er aber später selbst weggestrichen hat. Als seine Zweite in Dresden in einem Pri vatkreis zum ersten Male vorgeführt wurde, verfaßte er — dem Drängen seiner Freunde nachgebend — als Einführung in die Ton welt seiner so neuartigen Sinfonie einen dichterischen Entwurf, in dem er in Worten zu umschreiben versuchte, was ihm als Ideengehalt der Klänge vorgeschwebt. Dieser Entwurf, 1902 in einer kleinen Auf lage nur für die Freunde Mahlers be stimmt, kennzeichnet so stark die Phan tasie des Komponisten, daß man sie — ohne die Sinfonie als „Programmusik“ an sprechen zu wollen — getrost als Ein führung in das groß geartete Werk gelten lassen kann. Sie sei in diesem Sinne nach stehend wiedergegeben. ¥ „Die Totenfeier“ „Erster Salz: Wir stehen am Sarge eines geliebten Menschen. Sein Leben, Kämpfen, Lieben und Wollen zieht noch einmal, zum letztenmal, an unserem geistigen Auge vor über. Und nun, in diesem ernsten und tiefsten erschütternden Augenblick, wo wir alles Verwirrende und Heranziehende des Alltags abstreifen, greift eine furchtbar ernste Stimme in unser Plerz, die wir im betäubenden Treiben des Tages überhören: Was nun? — Was ist dies Leben und dieser Tod? Gibt es für uns eine Fortdauer? Ist dies alles nur ein wüster Traum oder hat dies Leben und dieser Tod einen Sinn? — Und diese Fragen müssen wir beantworten. Das Intermezzo Die nächsten drei Sätze sind als Intermezzo gedacht. 2. Andante: Ein seliger Augenblick aus dem Leben dieses teueren Toten und eine wehmütige Erinnerung an seine Jugend und verlorene Unschuld. 3. Scherzo: Der Geist des Unglaubens, der - Verneinung hat sich seiner bemächtigt. Er blickt in das Gefühl der Erscheinungen und verliert mit dem reinen Kindersinn den festen Halt, den allein die Liebe gibt. Er verzweifelt an sich und an Gott. Die Welt und das Leben wird ihm zum wirren Spuk; der Ekel vor allem Sein und Wer den padct ihn mit eiserner Faust und jagt ihn bis zum Aufschrei der Verzweiflung. 4. Urlicht (Altsolo). Die rührende Stimme des naiven Glaubens tönt an unser Ohr: Ich bin von Gott und will wieder zu Gott! „Der liebe Gott wird mir ein Lichtdien geben, wird leuchten mir bis in das ewige Leben!“ Die Auferstehung; Fünfter Satz: Wir stehen wieder vor allen furditbaren Fragen und in der Stimmung am Ende des ersten Satzes. Es ertönt die Stimme des Rufers in der Wüste: Das Ende alles Lebendigen ist gekommen — das jüngste Gericht kündigt sich an und der ganze Schrecken des Tages aller Tage ist hereingebrodien. Die Erde bebt, Gräber springen auf, die Toten erhebBF sidi und sdireiten in endlosem Zuge dahin. Die Großen und die Kleinen, die Könige und die Bettler, die Gerechten und die Gottlosen, alle ziehen dahin. Der Ruf nach Erbarmen und Gnade tönt schrecklich an unser Ohr, immer furchtbarer schreitet es daher, alle Sinne vergehen uns, alles Be wußtsein schwindet uns bei Herannahen des Ewigen Gerichts. Der „Große Appell“ ertönt — dieTrom- peten der Apokalypse rufen! Mitten in der grauenvollen Stille glauben wir eine ferne, ferne Nachtigall zu vernehmen, wie einen letzten zitternden Nachhall des Erden- lelbens. — Leise erklingt ein Chor der Heiligen und Himmlischen: „Auferstehen, ja auferstehen wirst du!“ Du erschauerst — da erscheint die Herrlichkeit Gottes! Ein wundervolles, mildes Licht durchdringt uns bis an das Herz — alles ist stille und selig! — Und siehe da! Es ist kein Ge richt ... es ist kein Sünder, kein Gerechter, kein Großer und kein Kleiner, es ist nicht Strafe und nicht Lohn! — Ein allmächtiges Liebesgefühl durchleuchtet uns mit seliger^ Wissen und Sein!“ — ¥ Mahler hat diese dichterische Paraphrase seiner Schöpfung später mit aller Ent schiedenheit aus der Oeffentlidikeit zurück gezogen, um nur ja nicht eine Handhabe dafür zu bieten, daß seine Komposition als Programmusik aufgefaßt werden könnte. Tatsächlich ist audi dieser Druck gänzlidi aus der Mahler-Literatur versdiwunden und unbekannt. Das hier gleidisam unterlegte Programm soll denn auch nur als solches bewertet werden. Denn auch ohne dieses „Mahlersche Programm“ läge der pro grammatische Gedanke des Werkes ziem- lidi klar.