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ZUR EINFÜHRUNG Wenn man Bachs populäre Kompositionen auf zählt, muß man sein Doppelkonzert für zwei Violinen nennen. Vor allem erfreut sich der lang same Satz, ein Largo ma non tanto in F-dur, ob seiner überirdischen Schönheit, seiner friedvollen Verklärtheit größter Beliebtheit. Man bewundert aber auch die technische Vollendung, mit der die beiden Soloparte gegeneinander ausgewogen und gegen die begleitenden Streicher abgehoben sind. Das ist wieder einmal ein Beispiel dafür, wie ein deutscher Meister Einflüsse von draußen — in die sem Falle die Einflüsse der italienischen Geigen schule — aufnimmt und ins Deutsche übersetzt, so, daß das Fremde völlig eingeschmolzen ist. Auch Anton Bruckners vierte Sinfonie fand keine Gnade vor den Augen der Fachleute. Die Ber liner Philharmoniker erklärten im Dezember 1875 nach einer Neuheitenprobe: ..Nur der erste Satz ist aufführbar — das übrige — verrückt.“ Den von seiner Sendung Erfüllten konnte das nichts anhaben. Am 14. Februar 1875 hatte er die Feder zu einer neuen Sinfonie angesetzt. Diese Fünfte wurde, wie er selbst sagte, sein „kontrapunktisches Meister stück“. Es entstand in der Zeit, als er begann, an der Universität Kontrapunkt zu unterrichten. Am 9. August 1877 lag es fertig vor. Bruckner widmete es dem damaligen Unterrichtsminister Dr. Karl v. Stremayr, dem er die Ernennung zum Lektor an der Universität verdankte. Die Uraufführung in Graz am 8. April 1894 unter Franz Schalk war ein Riesenerfolg. Unzählige Male mußte sich das Orchester von den Plätzen erheben. Ein Besucher äußerte sich: „Hier werden die Motive durch das Orchester nur so durchgesiebt; auf der einen Seite kommen sie hinein und auf der anderen Seite heraus ..." Ein intuitiver Mensch hatte vor ausgefühlt, was später die Theoretiker erkannten, daß es sich bei der Brucknerschen Fünften um einen Organismus von einer bis dahin unerhörten Ge schlossenheit handelt. Armin Knab hat dies in einer feinsinnigen Studie in allen Einzelheiten dargelegt. Mit einem Wunder beginnt das Wunderwerk. In den ersten 21 Takten nämlich sind bereits alle Keime enthalten, die später zur herrlichen Entfaltung kommen. Bruckner reiht drei Urmotive aneinander. Das erste ist eine Baßfigur im Pizzikato der Streicher bässe. Das zweite der auseinandergerissene, nach oben strebende Ges-dur-Akkord. Das dritte ein Vier takter, in dem ein stufenweise aufwärtsschreitendes „Dreimotiv", wie es Knab nennt, eine wichtige Rolle spielt. Von dem ersten Urmotiv werden alle gleich mäßig rhythmisierten diatonischen oder chroma tischen Gänge, vom zweiten alle zuckenden und flatternden Rhythmen, vom dritten alle melodischen Gebilde der Sinfonie hergeleitet. Bruckner schließt diese, ich möchte sagen: „Vor-Themenaufstellung“ durch eine Generalpause von dem folgenden ab. Der erste Satz arbeitet mit vier aus den Urmotiven gewonnenen Themen und endet mit einer gewaltigen Koda, die in ihren Maßen dem Ungewöhnlichen des Satzes entspricht und mit Trompeten und Posaunen sieghaft endet. Das Adagio allerdings fällt in völlige Trostlosigkeit zurück. Die Oboe „stimmt eine Ballade der Weltflucht an", sagt der sonst in Auslegungen so zurückhaltende Robert Haas. Aber Bruckner ist nicht der Mann, der in die Einöde der Trostlosigkeit versinkt. Das zweite Thema des Satzes blüht auf im Glück des Getröstetseins. Beide Themen, nennen wir sie A und B, wechseln dann miteinander ab, und zwar in der Form: A — B — A — B — A. Esistalso ähnlich wie in der vierten Sinfonie ein Lied in meh reren Strophen. Jede ist mit neuen Varianten be reichert. In einer kurzen Koda erscheint Thema A noch einmal, und zwar in dreifacher Gestalt, zuletzt mit einer Wendung nach Dur. Im ersten Thema stecken die abfallende Quinte und der „Dreiton schritt“ vom Urmotiv III B, außerdem die im ersten Satz eingeführte Septime, die im Adagio geradezu beherrschend wird. Die Begleitung aber ist nichts anderes als das Thema selbst (!), wie man unschwer erkennt, wenn man die Spitzentöne betrachtet. So werden hier in rätselhaft-magischer Form zwei The men, die eigentlich eins sind, miteinander verbunden. Gleichzeitig wird durch den Widerstreit des Rhyth mus (Vierviertel gegen Sechsviertel — ein Prüfstein übrigens für die Bruckner-Dirigenten) der Eindruck des Trostlos-Schweifenden verstärkt. Es ist des Staunens kein Ende. Im Scherzo ist der Baß zunächst notengleich dem des langsamen Satzes, und das erste Thema selbst ist nichts anderes als das Thema des Adagios. Durch geringfügige Änderungen ist aber etwas völlig Neues, eben ein Scherzo ent standen. Als wollte Bruckner noch einmal zeigen, wie der Bildhauer aus dem gleichen Material die ver schiedensten Gebilde hervorzaubern kann, wenn ihm nur die Phantasie zur Seite steht. Das Finale wird zur Krönung der Sinfonie. Zu ihrem Höhepunkt. Bruckner läßt die Sonatenform un angetastet, aber er fügt Fugenabschnitte ein. Und verschmilzt beide zur Einheit. Mittelpunkt des Satzes ist die große Doppelfuge, sein Höhepunkt und der Höhepunkt der ganzen Sinfonie das als Epilog gebrachte (vorher als drittes Thema in der Expo sition stehende) Choralthema. Das ganze Blech bringt es, die andern Instrumente kontrapunktieren es mit dem ersten Finale-Thema. Zum Schluß er innern die Trompeten noch einmal an das erste Thema des ersten Satzes und runden so den schöpfe rischen Kreis. Dr. Karl Laux.