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Peter Tschaikowsky Peter Tschaikowsky, dessen 100. Geburtstag wir am 7. Mai begehen, ist eine der seltsamsten Erscheinungen der Musikge schichte. Seine Werke erfreuen sich einer beispiellosen Beliebtheit. Seien wir genau: einige seiner Werke. Viele andere sind vergessen und nur den Fachleuten, und selbst diesen nur obenhin, bekannt. Aber man ist den Sinfonien Tschaikowskys gegenüber — um diese handelt es sich vornehmlich — auch ein bißchen mißtrauisch. Man weiß nicht recht, ob man sich nicht blamiert, wenn man sagt, daß sie einem gefallen. Überbleibsel einer Zeit, die meinte, was wertvoll ist, müsse auch „schwer“, „schwierig“, nicht leicht ver ständlich sein. Tschaikowsky geht leicht ein. Auch wer keine Ahnung von Musik theorie hat, keinen Schimmer von Musikgeschichte, fühlt sich von ihm angesprochen. Er ist darin, als Typ, ungefähr das genaue Gegenteil von Hans Pfitzner, wiederum als Typ genommen für Musiker, die „erobert“ sein wollen. Wir, die wir dem Musikantischen und dem Volkstümlichen wieder weit die Tore geöffnet haben, sehen Tschaikowsky anders. Wir freuen uns seiner Musik, wenn sie weint und wenn sie lacht, wir weinen mit ihm und schämen uns unserer Tränen nicht, wir lachen mit ihm und genieren uns auch nicht, einmal tüchtig zu lachen. Freilich, er macht uns mehr weinen als lachen, der Komponist von sechs Sinfonien, von denen nur eine einzige in Dur steht, des Kla vierkonzerts in b-Moll (die Dur-Konzerte haben sich nicht durch gesetzt), der düsteren Oper „Eugen Onegin“, kurz der musika lische Gegenspieler eines Turgenjeff und eines Dostojewsky. Seltsam wie die Wirkung ist auch die Persönlichkeit selbst. Viele Hörer haben nicht danach gefragt und fragen nicht danach, was für ein Mensch hinter dieser Musik steht. Sie ist einfach da. (Wenn man daran denkt, wie im Gegensatz dazu bei Beethoven Leben und Werk mit- und ineinander wirken!) Die Veröffentlichung seiner Briefe anNadeshda vonMeck in letzter Zeit haben das Inter esse an dem Menschen Tschaikowsky belebt. Das Zerrbild, das der Film „Es war eine rauschende Ballnacht“ von ihm entwarf, sollte man schnell wieder vergessen. Tschaikowsky hat die Freundin nie gesprochen, geschweige denn, daß er ein Liebesverhältnis mit ihr gehabt hätte. Es war eine der seltsamsten Freundschaften, die es je gegeben hat. Eine reine Brief-Freundschaft. Was sie für Tschaikowsky be deutete, geht aus den Briefen hervor. Nicht nur, daßFrau vonMeck ihm eine Jahresrente von 6000 Rubeln aussetzte und viele andere Gefälligkeiten erwies, auch das Verständnis, das sie seinem Schaffen entgegenbrachte, half ihm über schwere Stunden hinweg. „Ihnen verdanke ich, daß die Liebe zur Arbeit mit doppelter Kraft in mich hcreinströmt. Keinen Augenblick will ich vergessen, daß Sie mir die Möglichkeit gaben, meinen künstlerischen Beruf zu er füllen.“ Und weiter: „Ohne Übertreibung kann ich sagen, daß ich Ihnen mein Leben verdanke. Wenn Sie während der schrecklichen Periode meines Lebens nicht erschienen wären, so wäre ich ohne Zweifel meiner Gemütskrankheit rettungslos verfallen.“ Er hatte es nicht leicht im Leben. Er war ungemein empfindsam, leicht erregbar, schüchtern. Und so mied er die Aufführungen seiner Werke, und wenn ihm einmal der Taktstock in die Hand gedrückt wurde, eines von ihnen reibst zu dirigieren, dann ver sagte er, wie Anton Bruckner in der gleichen Situation versagt hat. Es gab Zeiten, wo er die Menschen floh. Auf der anderen Seite: wenn er in Gesellschaft war, bezauberte er sie durch seinen Geist und Humor, durch sein ansteckendes Lachen. Tschaikowsky war, so sagt Rimsky-Korsakow in seinen Erinne rungen, „anziehend und angenehm im Umgang, ein Mensch, der es verstand, schlicht in seinem Wesen zu sein und immer mit offen sichtlicher Aufrichtigkeit zu sprechen. Ein Weltmann im besten Sinne des Wortes, wirkte er stets anregend auf jede Gesellschaft, in der er sich befand.“ Widerspruchsvoll steht er auch seinem Schaffen gegenüber. Ein mal schreibt er an Frau v. Meck: „Sobald ich mich dem Müßig gang hingebe, überfällt mich Schwermut, Zweifel an meiner Fähig keit, die mir erreichbare Stufe der Vollkommenheit jemals zu er klimmen, Unzufriedenheit in mir, ja Haß gegen mich selbst. Der Gedanke, daß ich ein Nichtsnutz sei, daß meine musikalische Tätigkeit meine vielen Mängel sühne und mich im wahrsten Sinne des Wortes erst zum Menschen erhebe, bedrückt und peinigt mich. Das einzige Mittel, diesen quälenden Zweifeln und dieser Selbst- zerfleischung zu entgehen, ist: mich an eine neue Arbeit zu machen. So drehe ich mich denn in diesem Sinne wie ein Eichhörnchen in seinem Rade.“ Und dann heißt es wieder aus der Arbeit am Violinkonzert heraus: „Der erste Satz des Geigenkonzertes ist bereits fertig; morgen beginne ich mit dem zweiten Satz. Seit dem Eintritt meiner günstigen Stimmung ist mir diese Stimmung treu geblieben. In diesem Gemütszustände verliert das Schaffen gänz lich das Gepräge der Arbeit; es ist andauernde Seligkeit.“ Und so voller Gegensätze ist auch seine Musik. Das Violinkonzert ist ein Beispiel für den „glücklichen“ Tschaikowsky. Wenn auch der Jude Leopold Auer, dem es gewidmet war, eine Aufführung ablehnte, weil er es vorher noch einer Revision unterziehen wollte, wenn auch ein anderer Jude, der Wiener Kritiker Hanslik, nach der Erstaufführung in Wien schrieb, es sei „stinkende Musik“, so hat es sich trotzdem durchgesetzt und behauptet heute neben den Konzerten von Beethoven und Brahms seinen Platz in den Kon zertsälen. Schon das Hauptthema des ersten Satzes ist so herrlich, ein so genialer Einfall, die thematische Arbeit dazu so gediegen, daß es gar nicht der andern Herrlichkeiten bedürfte: der schwär merischen Canzonetta des langsamen Satzes und des virtuosen, tänzerisch-feurigen Finales. Ganz anders die sechste Sinfonie, die von dem Bruder des Komponisten, Modeste Tschaikowsky (der auch sein erster Bio graph war), den Beinamen „Die Pathetische“ erhielt. Peter hat ihn dann später gebilligt. Es ist eine „pathetische Sinfonie“ im ersten und im letzten Satz, es ist aber vor allem eine Sinfonie der Gegensätze. Der erste Satz mit seinem düsteren ersten Thema und der von unsagbarer, aber unter Tränen lächelnder Wehmut kündenden zweiten Themengruppe ist ganz im klassischen, also dualistisch-gegensätzlichen Sinne aufgebaut, Durchführung und Reprise sind deutlicher als in anderen Sinfonien des Meisters er kennbar. Die Koda trägt den Charakter eines Trauermarsches. Welch ein Gegensatz dazu der graziöse zweite Satz, den man in Rußland den ,, 5 / 4 -Walzer“ nennt, mit seinem unendlich traurigen Trio. Und dann, eine kühne Neuerung, ein Scherzo mit einem donnernden, gewaltigen, sich mächtig steigernden, sich überstür zenden, fortreißenden Marsch. Und aus diesem Überschwang geht es in die aufstöhnende Trostlosigkeit des Finales. Mit ihm hat sich Tschaikowsky sein Requiem geschrieben. Zehn Tage nach der Uraufführung, am 25. Oktober 1893, starb er an den Folgen der Cholera. Die „Ouvertüre 1812“ sagt wenig über ihren Autor aus. Sie ist eine Gelegenheitskoniposition, ein Auftragswerk, das Tschai kowsky selbst „sehr laut und lärmend“ nannte. Sie wurde ge schrieben zur Einweihung — der Erlöserkirche in Moskau. Sie sollte im Freien aufgeführt werden, und man hatte sogar die Mit wirkung von Glockengeläute und Kanonenschüssen vorgesehen. Darauf müssen wir im Saal verzichten, aber sie macht trotzdem noch genug Lärm. Sie ist aber ein wirkungsvolles Tongcmälde und mit großem Können gemacht: die Art, wie Tschaikowsky das thematische Material verarbeitet, zeigt den großen Könner. Die russische Hymne triumphiert, nach heftigem Kampfgewoge, über die französische Marseillaise — Sieg der Russen über den Eindring ling Napoleon. So ist auch dieses Werk bezeichnend für den Kom ponisten, der, so sehr er deutschen, italienischen und französischen Einflüssen zugänglich war, vor allem Russe war und blieb. Dr. Karl Laux. tf. ^12-