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Notizen von einem Besuch in der Stadt der Wissenschaft bei Nowosibirsk Von Kurt Turba Bedenkzeit „Es ist sonderbar“, sagte uns ren Wissenschaftler. Obwohl wir nur Akademiemitglied Budker, Leiter des Kernphysikalischen Instituts, beim Abschied: „An eben diesem Tisch des Rates der Gelehrten, wo wir uns heute unterhielten, saßen vor genau drei Wochen Genosse Walter Ulbricht und seine Gattin. Damals sprachen wir fast ausschließlich über die Ju gend. Und heute, da ihr jungen deut schen Genossen bei uns zu Gast seid, ist dauernd von einigen wissen schaftlichen Problemen des Jahres 2000 die Rede, von der gelenkten thermonuklearen Reaktion, von der Antimaterie und anderem . . „Das hat seinen guten Grund“, er widerte ihm Horst Schumann, der Leiter unserer FDJ-Delegation. „Sie haben sich Gedanken darüber ge macht, wie sich die Jugend unserer beiden Länder am besten als künf tiger Hausherr qualifizieren kann; wenn aber die Jugend selbst kommt, muß man ihr schonungslos — wie Sie es getan haben — sagen, was sie noch • alles zu lernen hat, um die Stafette übernehmen zu können.“ zwei knappe Tage in Nowosibirsk weilten und daher die Gefahr be steht, daß wir mitunter nur sehr oberflächliche Eindrücke sammeln konnten, so sei hier dennoch wie dergegeben, was einige Mitglieder unserer Delegation noch spät in der Nacht niederschrieben: „Nowosibirsk. Stadt der Wissen schaften. Das sind Menschen! Kein Gehabe, kein Getue . . „Ich hatte bisher falsche Vorstel lungen von einem Akademiemitglied. Zwar habe ich bei uns zu Hause noch keines kennengelernt, aber ich glaubte immer: würdige Herren hin ter dick gepolsterten Türen, die ab und zu ein geistreiches Wort von sich geben. Aber hier? Wir sahen auf dem Hof eine „Wasserkanone’ in Aktion. Druck: 20 000 atü. Beschossen wur den 15 hintereinander aufgestellte Ziegelsteine. Die Splitter flogen 80 m weit durch die Luft. Ein junger Mann im weißen Hemd mit aufgekrämpel- ten Ärmeln, Nickelbrille, bekam am rechten Ohr etwas ab. Es blutete. Er zog ein Stück Mullbinde aus der thematischen und kybernetischen Problemen in internationalen Fach zeitschriften die Runde machen. Wir suchen selbst „Sibirien umfaßt das größte Terri torium unseres Landes. Es wird nach den Ideen des XXII. Parteitages er schlossen und aufgebaut. Das geht nicht ohne moderne Wissenschaft. Deshalb lautet unser Problem: Wie können wir die begabte Jugend am schnellsten in die Wissenschaft ein führen? Der Zar hat uns eine schwere Situation hinterlassen. Die Zeit nach der Revolution war zu kurz, um in diesem Riesengebiet durchgängig eine hohe Kultur einzuführen. Um diesen Prozeß zu beschleunigen, wurde nach einer Idee von Lawrent jew diese Schule gegründet. Wir suchen begabte junge Menschen, die noch ungenügend wissenschaftlich ausgerüstet sind. ’ Wir ermitteln sie selbst durch schriftliche Wettbewerbe, die wir für alle Dörfer und Schulen Sibiriens ausschreiben. Wir geben allen Schü lern der achten bis elften Klassen ein Heft mit mathematischen und physikalischen Aufgaben in die Hand. Diese Aufgaben haben wir selbst ausgearbeitet; sie setzten keine spe ziellen Fachkenntnisse voraus. Sie sind so angelegt, daß wir aus der Beantwortung dieser Fragen auf die Denkkapazität des Einsenders Rück schlüsse ziehen können. In diesem Jahr haben wir auch einen Wett bewerb zu chemischen Problemen ausgeschrieben. Jedes Jahr erhalten wir etwa 1500 bis 2000 richtige Einsendungen. Da nach gehen wir den ersten Schritt: Wir suchen die Besten mit den ori ginellsten Lösungswegen aus. Der zweite Schritt: Wir laden diese Schü ler im Monat April an drei bis vier Orte Sibiriens ein. Unsere wissen schaftlichen Mitarbeiter lernen sie matik, Physik, Chemie und Biologie; hierzu kommen Erdkunde, Russisch, Englisch, Literatur, Geschichte und Soziologie. Wie alle Programme, so haben wir auch das Mathematikprogramm radi kal modernisiert. Wir beginnen ab 9. Klasse mit einer sehr elementaren Darstellung der Differential- und Integralrechnung, ohne die entwik- kelte analytische Mathematik. Da nach behandeln wir Trigonometrie, mathematische Analysis bis zum Fourier-Koeffizienten. Später wen den wir uns der Theorie der alge braischen Gleichungen zu. Am Ende der neunten Klasse nehmen wir, ebenfalls elementar, mathematische Logik und Kombinationslehre durch. In der 10. Klasse behandeln wir ein halbes Jahr lang Geometrie. Im nächsten halben beginnt dann die Spezialisierung in Klassen für Ma thematik, Physik und Chemie. Alle Schüler dieser Klassen werden mit Fragen der Programmierung ver traut gemacht. Im dritten Jahr nelimen wir dann alles durcio, was in das erste Stu dienjahr an der Universität gehört. So kennten die diesjährigen Absol venten gleich mit dem zweiten Stu dienjahr beginnen. Ursprünglich hatten wir nur spe zielle Lehrbücher für die Haupt fächer ausgearbeitet. Später kamen die Schüler zu uns und beklagten sich, daß die Lehrbücher für Lite ratur und Geschichte zu langweilig seien und zuwenig hohe Anforde rungen stellten. Jetzt arbeiten wir auch diese Lehrbücher um. Neben dem Unterricht spielen an unserer Schede die Fachzirkel eine große Rolle. Es existieren 25, darun ter solche für Kernphysik, Biophysik, Biochemie und Kybernetik. Unser Hauptproblem an unserer Schule be steht darin, die Schüler dazu anzu Zwei Minuten Den künftigen Hausherren des So wjetlandes die bestmögliche wissen schaftliche Ausbildung zu geben — dem gilt, gepaart mit riesigen For schungsvorhaben, die volle Aufmerk samkeit der Akademiker ihrer Stadt bei Nowosibirsk. Mehr noch: Sie sehen darin ihren Lebensinhalt. „Der Wissenschaftler ist dazu da, um sich für sein Volk, vor allem für die Ju gend, restlos zu verausgaben“, das ist einer der geistigen Leitsätze, die das wissenschaftliche Leben in die ser Stadt beherrschen und beflügeln. Durchschnittsalter: 31 „Wenn einer von uns jungen Wis senschaftlern irgendwo das Wort er greift“, erzählt uns Juri Schuraw ljow, Abteilungsleiter im Institut für seine eigene Arbeit gibt. Das hat sich bei uns so eingebürgert und wird auch so bleiben. Und zwar nicht nur der ständigen Leistungskontrolle we gen; ein Wissenschaftler muß immer wach und bewußt leben. Er kann nicht ordentlich arbeiten, wenn er nicht mit sich selbst und seinen wis senschaftlichen Resultaten im reinen ist.“ Das Durchschnittsalter der mehr als siebentausend wissenschaftlichen Mitarbeiter in Nowosibirsk liegt bei 31 Jahren. Die Jugend stellt den größ- te Teil der dort tätigen 40 Akade miker und korrespondierenden Mit glieder der Akademie der Wissen schaften der UdSSR, der 142 Dok toren der Wissenschaften wie der 1200 Kandidaten. Tasche, wickelte es um den Bügel der Brille, und ging dann zu den Laboranten, um mit ihnen den nächsten Versuch zu besprechen. Ich fragte unseren Dolmetscher, wer das sei. Die Antwort: ein Korrespondie rendes Mitglied der Akademie . , .“ Mehr Taten, weniger Gerede „Hier wird offensichtlich nach einem exakten Plan, mit modernsten Methoden und bester Information Wissenschaft getrieben. Die ,Alten' reißen die .Jungen' mit. Das ist alles ..." „Ich habe den Eindrude, daß hier — anders als bei uns zu Hause — etwas mehr getan und etwas weniger ge redet wird. Nicht so viel Gerede über Begabungen; hier werden sie -eben unter der persönlichen Verantwor tung der Akademiemitglieder ge fördert. Hier wartet keiner darauf, daß ihm ein Begabter .frei Haus' gelie fert wird. Die Wissenschaftler selber suchen sie. Und kümmern sich um sie wie um ihre eigenen Söhne . . .“ persönlich kennen und führen mit ihnen eine noch schwierige, münd liche Olympiade durch, die den Cha rakter eines strengen Examens hat. Der dritte Schritt: Die rund 700 Besten aus diesem Kreis laden wir in unser Sommerlager in Nowo sibirsk ein. Wir leben 20 Tage unter ihnen. In diesem Jahr hielten wir vor den Schülern an jeweils fünf Wochentagen folgende Vorlesungen: 6 Stunden Mathematik, 6 Stunden Physik, 2 Stunden Chemie, 1 Stunde theoretische Biologie. Dazu kommen Übungen. Dabei sehen wir uns die Mädchen und Jungen sehr genau an: Wer von ihnen kann arbeiten? Wer ist so sehr an wissenschaftlicher Ar beit interessiert, daß er dafür alles andere stehen- und liegenläßt? Hohe Anforderungen Die dreihundert Besten aus diesem Kreis nehmen wir dann an unserer Schule auf. Dieses Jahr haben wir die dritte derartige Olympiade durch geführt. Zunächst bildeten wir die Schüler ab 9. Klasse für drei Jahre aus. Jetzt läuft der Unterricht ab 10. Klasse für zwei Jahre. Wir über legen uns jedoch, ob es nicht das beste wäre, die Jugendlichen nach Ab schluß der 7. Klasse bei uns aufzu nehmen und sie dann in drei Jahren auf die wissenschaftliche Arbeit an der Universität vorzubereiten. Un sere Absolventen bilden an der Uni versität spezielle Guppen. Sie begin nen gleich mit dem zweiten Studien jahr. Ich möchte ausdrücklich beto nen: Alles, was wir tun, ist ein Expe riment. Wir suchen nach den besten Lö sungswegen. Das Programm der Schule wurde von uns speziell erar beitet. Die Hauptfächer sind Mathe halten, daß sie sich nicht selbst über fordern. Sie lernen frühzeitig, selb ständig zu arbeiten. Wir erziehen Sie zu kontaktfreudigen Menschen. Viele haben die 11. Klasse mit wis senschaftlichen Arbeiten beendet, die in Fachzeitschriften veröffentlicht werden konnten. Anfangs schien es uns, als seien die Programme zu schwer. Wir muß ten unsere Auffassung gründlich kor rigieren, nachdem diese Schüler das Mathematikprogramm, das auf 160 Stunden berechnet war, in 120 Stun den durchnahmen. Die Jugend ist heute früher reif, dem müssen wir ständig Rechnung tragen. Die Schü ler selbst beschweren sich, wenn sie zuwenig interessante Arbeit haben, die alles von ihnen abverlangt.“ Bezeichnende Geste Nadi diesem Kurzvortrag von Prof. Ljapunow erlebten wir eine überzeugende Lektion kommunisti scher Gemeinschaftsarbeit. In dem kleinen Raum bei Prof. Trofimuk, in dem dieses Gespräch stattfand, sa ßen ringsum an den Seiten junge Wissenschaftler. Mit der größten Selbstverständlichkeit traten die älte ren Akademiemitglieder ihren Platz an der Stirnseite des Tisches an ihre jungen Kollegen ab und nahmen selbst irgendwo im Zimmer Platz. Natürlich ist dies „nur“ eine kleine, äußerliche Geste gewesen. Aber da hinter stand das geistige Prinzip gegenseitiger Achtung ebenso wie der Leitsatz, daß demjenigen der Platz an der Stirnseite gehört, der am sachkundigsten zu dem jeweiligen Thema sprechen kann. Die junge Garde der Wissenschaftler in Nowo- — Fortsetzung auf Seite 7 — So eindrucksvoll diese Zahlen auch sein mögen, sie geben noch nicht das Wichtigste wieder: die Persön lichkeiten der jungen wie der älte- „Hochschul-Spiegel" Seite 6 Was es mit der Physikalisch-Ma thematischen Schule für Begabte in Nowosibirsk auf sich hat, schildert uns — nebenbei bemerkt, in deut scher Sprache — der Direktor dieser Schule: Genosse Akademiemitglied Ljapunow, dessen Beiträge zu ma Mathematik und gleichzeitig ehren amtlicher Vorsitzender des „Rates der jungen Gelehrten“ beim Zentral komitee des Komsomol, „dann er warten wir von ihm, daß er zunächst eine Art Rechenschaftsbericht über „Diese Sachlichkeit! Kein Ge schwätz aus der hohlen Hand heraus. In den Instituten immer wieder das selbe: ,Das ist unser Auftrag. Wir haben folgende Ergebnisse erzielt. Das sind unsere Probleme. Wir wol len jetzt das und das tun. Gibt es noch Fragen?' Schluß.“