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Dmitri Schostakowitsch ist heute unbestreitbar der bedeutendste und eigenständigste sowjetische Komponist. Darüber hinaus zählt er zu den profiliertesten, führenden schöpferischen Persönlichkeiten der internationalen Gegenwartsmusik, als Sinfoniker (mit bisher dreizehn überragenden Belegen aus diesem Schaffensgebiet) steht er einzig artig in der musikalischen Welt da. Außerdem finden sich in seinem Oeuvre, das der nationalen Tradition zutiefst verpflichtet und zugleich überzeugender Ausdruck echten musikalischen Neuerertums ist, sich bewußt zu einer ideclich klaren, vielfach program matischen Tonsprache bekennt, Beiträge zu fast jeder musikalischen Gattung. Hatte die Dresdner Philharmonie mit Igor Oistrach als Solisten des Violinkonzertes bereits im 5. Außerordentlichen Konzert einen ersten Geburtstagsgruß zum 60. Geburts tag des großen sowjetischen Komponisten gebracht, den dieser am 25. September 1966 nach glücklich überstandener Krankheit feiern konnte, so folgt heute mit der Auf führung seiner Sinfonie Nr. 5 d-Moll op. 41, die im Jahre 1937 vollendet wurde, ein weiterer nachträglicher Geburtstagsgruß. Das am 21. November 1937, anläßlich der Feierlichkeiten zum 20. Jahrestag der Oktoberrevolution von der Leningrader Philharmonie unter der Leitung von Jewgeni Mrawinski außerordentlich erfolgreich uraufgeführte Werk stellt eine bedeutsame Wende im Schaffen Schostakowitschs und in der Entwicklung seiner Persönlichkeit dar. Hatten manche Werke vor der „Fünften“ noch Züge des Skeptizismus und einer negierenden Ironie getragen, äußerte sich nunmehr in der fünften Sinfonie, dieser „prak tischen Antwort eines Sowjetkünstlers auf eine gerechte Kritik“, die Wendung zu einem eindeutigen realistisch-progressiven Stil von optimistischer Grundhaltung. Wenn der Komponist sagte, daß der Inhalt des Werkes das „Werden der Persönlichkeit“, die Entwicklung eines Menschen sei mit seinen Erlebnissen und all der konfliktgeladencn Tragik, die dann im Finale in lebensbejahender Freude ihre Lösung findet, so handelt es sich neben dem allgemein-menschlichen Anliegen seines Kunstwerkes nicht zuletzt um einen autobiographischen Inhalt: Der Komponist selbst betrachtet zurückblickend sein schöpferisches Wirken, die Entwicklung seiner eigenen Weltanschauung (die symptomatisch ist für viele junge sowjetische Menschen in jenen ersten zwanzig Jahren nach der Oktoberrevolution). So darf die „Fünfte“ als Resultat eines inneren Ent wicklungsprozesses gesehen werden, die von resignierender Müdigkeit und Ruhelosigkeit (erster Satz) zum besonnenen und freudigen Selbstbewußtsein eines stolzen Menschen führt (Finale). Mit dieser Sinfonie begann recht eigentlich Schostakowitschs Weg als bewußter Künstler und Gestalter der sowjetischen Gesellschaft. Der erste Biograph des Komponisten, Iwan Martynow, schrieb über die „Fünfte“: „Außerordentlich reich ist die Fülle an Gedanken, die hier geäußert werden: konzen triertes philosophisches Denken und intime lyrische Gefühle; stille Demut, Ergeben heit in die Schwierigkeiten des Lebens und machtvoller, lebensbejahender Wille; see lische Verwirrung, Trauer und Schmerz in der Einsamkeit und lebensfroher Humor - das sind die großen Gegensätze des Lebens, die den Komponisten bestimmten, das von ihm gewählte Thema in der Art einer Tragödie zu behandeln. Schostakowitsch läßt die antagonistischen Kräfte hart aufeinanderprallen und bejaht das aktive, ener gische Bewußtsein der neuen Persönlichkeit und die Kraft ihrer Weltanschauung. Wie ein Motto zu dem ganzen Werk erscheinen die ersten vier Takte, die Einleitung zum ersten Satz (Moderato). In dieses energische Motiv ist schon die ungeheure Kraft einbezogen, die für die ganze weitere sinfonische Entwicklung bestimmend bleibt. Mit dem Hauptthema, das aus dem Motto herauswächst, werden dann die verschiedenen Stadien des Kampfes um die Befreiung aus der Gefangenschaft quälender Reflexionen skizziert. Von heiterer Wehmut erfüllt ist das kantable Seitenthema. Die fortwährende Veränderung der harmonischen Verbindungen, die Feinheit der Instrumentierung geben der Musik den Charakter einer leichten, zarten Träumerei. Die Exposition mit ihrer Welt quälender Gedanken und lyrischer Erinnerungen, ihrer unbeugsamen Entschlossen heit und müden Ergebung in die Mißgeschicke des Lebens wird abgelöst vom Unge stüm der Durchführung. Drohend erklingt das Hauptthema. Die Intonationen des Mottothemas erscheinen, in verzerrter Form tauchen die Umrisse des Seitenthemas auf. Am Schluß der Durchführung nimmt das Hauptthema die Gestalt eines grotesken Marsches an. Die Musik der Reprise vereint dann die Gesamtheit des thematischen Materials, obgleich es hier keine genauen Wiederholungen gibt. Aufgehellt-elegischen Charakter trägt die Coda. Auf dem Hintergrund des exakten Rhythmus der Bässe wird noch einmal das Hauptthema umgewandclt; noch einmal erklingt das Thema des Mottos. Der zweite Satz (Allegretto) ist ein funkelndes Scherzo. Es zeichnet sich durch Einfach heit und Humor aus. Das melodische Hauptthema überrascht durch unerwartete harmo nische Wendungen und absichtlich ungeschickte Sprünge. Einzelne seiner Motive zwängen sich in andere Episoden hinein. Das zweite Thema ist ebenfalls tänzerisch, doch wesentlich schärfer in der Rhythmik. Das dritte Thema wirkt hinreißend durch seine jubelnde Lebensfreude und seinen strahlenden Glanz. Mozartisch leicht, ländler- haft übermütig und ein wenig ironisch ist das bezaubernde Thema des Trioteils. Un gewöhnlicher Glanz zeichnet die Instrumentierung dieses Scherzos aus. Tieftragischen Charakter hat der langsame dritte Satz (Largo). Lyrische Wärme ver eint sich hier mit einer gewissen Härte des Kolorits und Strenge der Zeichnung. Von Erstarrung zu leidvollem Pathos und wieder zu kummervoller Ergebenheit - das ist die Gefühlsskala dieses Satzes. Unablässig fließt die Melodie, bald liedhaft, bald in der Form eines dramatischen Rezitativs. Eine der markantesten Stellen ist das Rezitativ der Oboe. Das ist die trauervolle Klage einer einsamen Seele, ausgedrückt in einer Sprache, die Bach verwandt ist und doch gleichzeitig völlig in die Gegenwart gehört. In der Reprise werden die Motive der Exposition in neuer dramatisierter Auffassung wiederholt. Aus sanfter Ergebung wird leidenschaftliches Flehen, aus ergreifender Klage tragisch bewegtes Pathos. Und von neuem weht leidvolles Sichbcscheiden aus den Schlußtakten, in denen die wichtigsten Themen des Satzes noch einmal vorüberziehen. In diese Welt tiefernster Stimmungen bricht in rasendem Angriff das Finale ein. Das marschartige, aggressive Hauptthema - rauh in seinem Äußeren, elementar in seinem Charakter - entsteht unerwartet aus dem Dröhnen der Pauken. Es gibt dem Finale einen besonderen Charakter - befehlend und drohend. Nachdem es eine Reihe von Wandlungen durchgemacht hat, bekräftigt cs den energischen, nachdenklichen Anfang. Große Kraft zeichnet auch das zweite Thema aus. (Es wird von der Trompete auf dem Hintergrund einer motorisch-rhythmischen Bewegung gespielt, ausgeführt von der Holzbläser- und der Streichergruppe). Die Entwicklung führt zur Reprise. Im lebendigen Pulsieren des musikalischen Organismus sammelt sich die gigantische Macht, die in den hellen Fanfarenstößen des Schlusses gipfelt, in diesem Schmettern, das den Sieg der neuen, tatkräftigen, optimistischen Weltanschauung über die Passivität und Leid ergebenheit des einzelnen Menschen ausdrückt.“ Dr. Dieter Härtwig VORANKÜNDIGUNG : 22. November 1966, 19.30 Uhr, Steinsaal 2. KAMMERMUSIKABEND Werke von Giovanni Gabrieli und Anton Bruckner Anrecht D und freier Kartenverkauf 26. und 27. November 1966, jeweils 19.30 Uhr, Kongreßsaal 7. AUSSERORDENTLICHES KONZERT Dirigent: Heinz Rögner, Berlin Solist: Julian von Kärolyi, München (Klavier) Werke von Hans Werner Henze, Wolfgang Amadeus Mozart und Ludwig van Beethoven Freier Kartenverkauf Programmblätter der Dresdner Philharmonie - Spielzeit 1966/67 - Künstlerischer Leiter: Prof. Horst Förster Redaktion: Dr. Dieter Härtwig Druck: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden, Zentrale Ausbildungsstätte 39/147 III 9 5 1,9 1066 It G 009 66 66 3. PHILHARMONISCHES KONZERT 1966/67