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drei anderen Sätze (ein fugiertes Allegro, ein melodisch reizvolles Largo und ein heiter-bewegtes Allegro-Finale) trotz der polyphonen Setzweise einige Themengestaltungen, motivische Ent wicklungen und Steigerungen, die bereits auf neue, frühklassische Empfindungs- und Aussage formen hindeuten. Zu seiner Zeit berühmter als Bach war ein anderer Zeitgenosse des großen Thomaskantors, Georg Philipp 'Telemann (1681-1767). Dieser äußerst vielseitige und produktive Komponist, der in wechselnder Folge höfische, städtische und kirchliche Ämter innehatte - Hauptstätten seines Wirkens waren Leipzig, Sorau, Eisenach und Frankfurt (Main), bevor er seit 1721, schon hochberühmt, die Lebensstellung eines Musikdirektors der fünf Hauptkirchen in Hamburg ein nahm - hinterließ uns, obwohl auch von seinen Werken vieles nicht erhalten blieb, eine uner meßliche Fülle von Kompositionen. Mit ungeheurem Fleiß begabt, schrieb Telemann insgesamt mehr Noten als Händel und Bach zusammen; keine Werkgattung seines Jahrhunderts, die er nicht gepflegt hätte. Aber wenn der Meister, der sich übrigens im Alter aufs Blumensammeln legte und sich von Händel aus London seltene Pflanzensendungen kommen ließ, auch in seiner witzigen Selbstbiographie scherzhaft bemerkte, er habe sich „ganz marode melodieret“, so war es doch ein großer Fehler, ihn, wie es im 19. Jahrhundert vielfach geschah, als bloßen „Viel schreiber“ abzutun. Sein zu seinen Lebzeiten in fast ganz Europa verbreitetes Werk, das u. a. 19 Passionen, mehrere Hunderte Kantaten und Motetten, über 50 Opern (Telemann war als letzter bedeutender Autor der Hamburger Gänsemarktoper auch neben Händel und Reinhard Keiser einer der besten deutschen Musikdramatiker seiner Zeit) sowie etwa 600 Instrumental kompositionen der verschiedensten Besetzungen umfaßt, erfreut sich im heutigen Musikleben mit Recht wieder einer immer noch zunehmenden Beachtung und Pflege. Findet sich doch in Tele manns Kompositionen neben weniger Bedeutendem wirklich ein außerordentlicher Reichtum an geistvoller, erfindungsreicher und farbiger Musik vielfältigster Art. Mit spielerischer Sicherheit und großem handwerklichen Können handhabte dieser Meister die musikalischen Stile seiner Epoche - den streng-polyphonen, konservativen Satz ebenso beherrschend wie einen leichten, melodisch-gefälligen, weltlichen Ton - und vermochte dank seiner bis ins hohe Alter anhaltenden Schaffenskraft auch bereits dem Übergang der deutschen Musik vom Barock zum neuen Stil der Empfindsamkeit Ausdruck zu geben, ohne daß sich bei ihm allerdings in dieser Hinsicht eine stetige Entwicklung nachweisen ließe. Unter den überaus zahlreichen Instrumentalwerken Telemanns für Orchester und Kammermusik ensembles begegnen wir den verschiedenartigsten, oft sehr interessanten Besetzungskombinationen und Formen. Vor allem die Form der Suite, die seinem schöpferischen Können sehr entgegen kam, wurde von ihm gepflegt, konnte er doch in den vielgestaltigen in der Suite gebräuchlichen Tanzformen sowohl seine eminente rhythmische Begabung als auch seinen starken melodischen Einfallsreichtum und sein ausgezeichnetes Beherrschen der Nationalstile der einzelnen Völker, deren Tänze in den Suiten erschienen, besonders entfalten. Als ein sehr reizvolles Beispiel für Telemanns Suitenkunst ist die Suite a-Moll für Flöte und Streicher anzusehen. Die sieben Ton sätze dieses Werkes, die auf die übliche Einleitung in Form einer französischen Ouvertüre mit der Zeitmaßfolge langsam-schnell-langsam folgen - hervorzuheben ist hier das von der Flöte solistisch übernommene Trio des 2. Satzes (Les Plaisirs) und der in italienischem Geschmack mit reicher Melodik und gehaltvoller Harmonik geschriebene 3. Satz (Air ä l’Italien) -, bringen in schönster Weise die eben geschilderten reichen künstlerischen Möglichkeiten des Meisters zum Ausdruck. „Er war der unvergleichliche Maler des Geheimnisvollen, des Verschwiegenen, des Unwägbaren - ihm gelang die Übertragung von Eindrücken, deren Mitteilung vor ihm wohl keiner so ge troffen.“ Dies schrieb einmal H. Prunieres, der französische Musikologe, über Claude Debussy, dessen 100. Geburtstag am 22. August 1962 die Musikwelt ehrenvoll gedachte. Mit den Worten des Komponisten Robert Oboussier sei fortgefahren: „Er löste die abstrakte Architektonik der traditionellen Form auf und setzte an ihre Stelle das Bild einer klangoptischen Vorstellung . . . Wo immer wir seinem Klang begegnen, berührt uns seine Helligkeit und Schwerelosigkeit, jene clarte, die seiner Musik ihr unverkennbar französisches Gepräge gibt.“ Claude Debussy, den die Musikwissenschaft seit seinem ersten großen Orchesterwerk „Der Nach mittag eines Fauns“, das 1894 in Paris uraufgeführt wurde, den Begründer und unübertroffenen Meister des musikalischen Impressionismus nennt, hat zeitlebens nur seiner Kunst gelebt. Aus einandersetzungen mit Richard Wagners pathetischer Musikdramatik, die Berührung mit Modest Mussorgskis „Boris Godunow“ und mit exotisch-javanischer Musik auf der Pariser Weltausstel lung sowie der Einfluß der französischen impressionistischen Maler (Debussy wollte übrigens selbst Maler werden!) wiesen den Komponisten auf seinen künstlerischen Weg, der ihn an die Seite der Dichter Verlaine, Baudelaire, Mallarme, Claudel und durchaus auch der Maler Courbet, Corot, Cezanne, van Gogh, Manet und Monet führte. „Man lauscht nicht auf die tausend Ge räusche der Natur, die uns umgeben, man ist nicht geöffnet gegenüber dieser so verschieden artigen Musik, die uns die Natur in einer solchen Fülle darbietet. Diese Musik umgibt uns, und wir haben mitten in ihr bis heute gelebt, ohne davon Kenntnis zu nehmen. Hier ist nach meiner Meinung der neue Weg . . .“ Dergestalt erläutert Debussy das Wesen seiner Musik, die also empfangene Eindrücke, Impressionen, wiedergeben will. Natureindrücke schilderten schon Mu siker vor Debussy, Renaissance- und Barockkomponisten, in der Klassik etwa Haydn und Beet hoven, nicht zu vergessen die Romantiker, die Realisten und „Naturalisten“ des 19. Jahrhunderts. Aber die letzte impressionistische Konsequenz derartigen Beginnens zeigt sich erst bei Debussy, der, weder eine faustische noch prometheische Natur, als eine etwas überzüchtete, stark reiz empfindliche Persönlichkeit in seiner Musik Natur und menschliches Leben betrachtete, genoß, erlauschte, davon träumte, aber nicht eigentlich gestaltete. Das, was den französischen Meister am stärksten fesselte, war das Ungreifbare, das Atmosphärische der Dinge, etwa Wechsel und Kontrast von Licht, Farben und Geräuschen, kurz „den fernen Widerhall der Natur“. Wahrhaftig keit kennzeichnet Debussys Stil, von dem der Komponist selbst sagt: „Ich habe ganz einfach meine Natur und mein Temperament sprechen lassen.“ Wie die impressionistischen Maler die feinen Linien zugunsten der Farbe zurücktreten ließen, gab Debussy die formale Symmetrik im Musikalischen auf und verabsolutierte die Farbwerte der Klänge, kombinierte die Klänge der Orchesterpalette nicht mehr grammatikalisch-logisch, son dern nach seinem klangmalerischen Instinkt. Debussys Musik wendet sich zunächst weniger an den Verstand als vielmehr an die Empfindungswelt des Hörers. Übermäßige Dreiklänge, Sep timen- und Nonenakkorde, Quarten- und Quintenparallelen, die Verwendung der exotischen Ganztonskala - das ist Debussys Handwerkszeug, mit dem er unbekümmert an der traditionell tonalen Ordnung rüttelt, wie sein expressionistischer Antipode Arnold Schönberg, der seinerseits die melodische Linie verabsolutierte. Die Einmaligkeit von Debussys Stil schloß jedoch nicht aus, daß er eine große musikgeschichtliche Anregerrolle gespielt hat. Sein erstes und einziges Streichquartett, op. 10, g-Moll, entstand 1893 und wurde im Dezember dieses Jahres durch das belgische Ysaye-Quartett urauf geführt. Es fand zum größten Teil eine kühle und ablehnende Aufnahme, weil der neuartige atmosphärische Klangausdruck, die eigen-