Volltext Seite (XML)
Beilage zur Weitzeritz-Jsimug Nr. 220 Mittwoch den 24. September 1919 85. Jahrgang Wiederanknüpfung der Handels beziehungen mit Nutzland. ll. L. Ein deutsch-russischer Großkaufmann schreibt uns aus genauer Kenntnis der augenblicklichen Lage in Rußland: Deutsche Techniker, deutsche Kaufleute werden bellte nikt offenen Arinen in Rußland ausgenommen. Das sind Anzeichen, die zu denken geben, sind aus gesprochene Aufforderungen zu raschem Handeln. Es ist viel besser, wenn wir sofort wieder ins Geschäft zu kommen und unsere Verluste wieder ein zubringen versuchen, als auf Schadenersatz zu warten. Die vielen Tausende von Schadenersatzansprüchen, die sich beim Neichskommissar in Berlin angesammelt ha ben mögen, sind in bestem Falle Makulatur. Schade um das schöne Papier, worauf sie nicdergeschrieben sind. Doppelt schade um die Zeit, die ihre Verfasser darauf verwendet haben. Wäre Wille und Vermögen da, den Opfern von Reichs wegen zu helfen, so hätten scholl längst Wenigsteils Abschlagszahlungen geleistet werden können, die so den Deutschen in Rußland er möglicht hätten, über die Zeit des wirtschaftlichen Interregnums hinwegzukommen. Leute von Energie lmd wirtschaftlichem Weitblick haben längst die Hoff nung aufgegeben, auf diesem Wege zu ihrem Recht zu kommen und haben den weit auSsichtSvollcren Weg der Selbsthilfe beschritten. Aber was sehen wir? Statt verständnisvollen Eingehens auf die Anregungen und Wünsche solcher Pioniere ein starrer Formalismus, der seine Unabhängigkeit und Unfähigkeit, Positives zu schaffen, unter allerhand Stedensarten und Ausflüchten ver schanzt. Rücksichten auf die Entente werden geltend gemacht. Es wird die Losung ausgeaeüen, daß jede Lieferung nach Rußland die Sowsetregierung stärkt. Es wird immer wieder darauf hing.diesen, daß wir keine diplomatischen Beziehungen zu Rußland haben und daher auch in Rußland auch keinen Handel trei ben dürfen. Dabei sitzen Vertreter der neutralen Mächte in Moskau und Petersburg uud arbeiten mit Hochdruck daran, die wirtschaftlichen Beziehungen wieder an zuknüpfen, wenigstens znnächst den Boden zu unter suchen, den Bedarf sestznst.'llen und gerüstet zu sein, wenn die Grenzschrnulen einmal fallen. Feindliche Kommissionen reisen nach Moskau, natürlich offiziell nnr um festzustellen, ob inan gegen den Bolschewis mus mit Waffengewalt vorgehen soll. Auch in das besetzte Gebiet kommen sic, nach Litauen und Polen. Wie unser Handel sich mit den Westmächten ent wickeln wird, ist völlig unsicher. Unsere O st grenzen kann uns aber auf die Dauer niemand nehmen. Im Osten liegt unsere wirtschaftliche Zukunft. In Rußland ebenso wie in den Grenzländern Litauen, Lettland, Estland, Polen usw. Diese werden sich ent- weder an Rußland oder an uns anlehnen. Es fragt sich, wer dabei früher aussteht, Rußland oder wir? In Rußland mögen noch Vorurteile gegen uns bestehen. Aber kein russischer Bauer weist einen Pflug, eine Sense oder ein Hufeisen zurück. Der russische Bauer ist konservativ. Er wechselt nicht gern seine Quelle. Und er hat gerade an der Politik der alten russischen Negierung, die das ganze Laad mit Deutschen aller Berufsklassen während des Krieges zwangsweise besiedelte, deutschen Fleiß, deutsche Un ternehmungslust und auch Zuverlässigkeit kennen ge lernt und die Ueberzeugung gewonnen, daß gerade der Deutsche der sicherste Lieferant und beweglichste Ver mittler ist. Einwandfrei ist von wagemutigen deutschen Agen ten, die unlängst aus Ruhland zurückgekehrt sind, festgestellt worden, daß wir eine ganze Menge wert voller Rohprodukte von dort erhalten können: Flachs, Hanf, Leder, ja sogar Nohgummi. Die Preise sind fast märchenhaft billig. Jedenfalls sind wir in der Lage, den russischen Käufer selbst bei vorläufig be scheidenem Handelsverkehr wieder an unsere Waren zu gewöhnen. Wir bringen ihnen die Ueberzeugung bei, daß keine Ententemacht ihnen das bieten kann, was wir ihnen bringen. Sehr wichtig ist auch, dah wir das russische Hand werk und den Kleinbetrieb wieder in Gang bringen. Dazu müssen wir ihnen die nötigen Werkzeuge lie fern. D>r Leute lauern schon auf uns. Und wenn wir auch jetzt noch wenig Ware haben, so müssen wir doch schon Beziehungen anknüpsen. Der jetzige latente Kriegszustand zwischen der deutschen und rus sischen Regierung mag zwar für die Diplomaten er träglich sein, aber in wirtschaftlicher Beziehung ist ein solcher Instand für zwei Länder, die auf ein ander angewiesen sind, durchaus untunlich. Wenn jetzt mutige Pioniere der Industrie und des Handels bereit sind, die Lage für die Wiederan- kniipfunz wirtschaftlicher Beziehungen zu Rußland zu ebnen auf eigene Rechnung und Gefahr — und sie ist vorerst nicht gering —, so dürfen sie wenigstens ordern, daß ihnen nicht von allweisen Regierungs tellen Knüppel zwischen die Räder geworfen werden, andern daß sie in ihren Absichten und deren Durch- Ährung tatkräftig unterstützt werden." Wir können hinznfügen, dah dieser Kauftnann dieser Tage sich auf die Reise gemacht hat, um irgend- wic den Weg nach Moskau oder Petersburg zu ge winnen. Tagung des Reichsstädtebundes. Im Marmorsaal des Zoologischen Gartens in Ber lin fand die 9. öffentliche Mitgliederversammlung des Reichsstädtebundes statt. Etwa 6—700 Vertreter aus allen deutschen/ Städten halten sich zusammenge- funden. Ter erste Vorsitzende Bürgermeister Dr. Belian in Eilenburg begrüßte, daß in den schweren Monaten, die hinter , uns liegen, die Moistchen Beamten zum Wohle des Bürgers treu ans ihren Posten geblieben seien. Die Mitglieder des Reichs-Slädlebundes müß ten bei der Vergebung von Stellen in erster Hin sicht die Rückwanderer ans den abzutretenden ^Gebie ten berücksichtigen. Ten jetzt Abgetrennten rnse man nicht ein Lebc.vv ft, sondern „Auf Wiedersehen" zu. Die deutschen SckWle im besetzten Gebiet würben mit alter Kraft ihr Deutschtum verteidigen müssen. Tie Ausgabe des Lundes werde es sein, bei der Re gierung für ihre Interessen einzutreten. Man könne ein Siebzig-Millioncn-Volk wohl unterdrücken, aber nicht nnsrotten. Für den Minister des Innern begrüßte Regie rungsrar Dr. Lulle die Erschienenen. Ter Minister des Innern lege bei den Beratungen über die kom menden Reformen den größten Wert auf eine stän dige Verbindung mit den Vertewern der Städte und Kommunalverbände. Wenn sich nicht alle Wünsche des einzelnen verwirklichen ließen, so müsse ange sichts der Not des Landes jeder die privaten Wünsche der Kommunen im Interesse des Staatsganzen zurück stellen. Bei den kommenden gesetzgeberischen Auf gaben, ber der Neuordnung der Provinzialkreis- und Städteorduung stehe das Selbstverwaltungsrecht im Vordergründe des Interesses. Der Krieg habe das Selbsiverwaltnngswesen der Kommunen in ungeahn ter Weise gefördert. Nm so härter müssen es jetzt die Kommunen empfinden, wenn die Neichsfinanzreform die materielle Selbstverwaltung des einzelnen stark beschneide. Deshalb möge man nicht an eine man gelnde Sqrge des Ministeriums für die Städte glau ben, sondern sich vor Augen halten, dah vor dem Wohl des Staatsganzen die Einzelinteressen zurück treten müßten. Hierauf gab Bürgermeister Könzcr im Namen des deutschen und preußischen Städtetages die Erklärung ab, daß beide Verbände Schulter an Schulter mit dem Reichsstädtebund für den Ausbau der Selbstverwal- rung kämpfen wollten. Neber die Frage der Kommunalisierung sprach Spudikus Dr Haffke-Berlin. Er wünschte sie auf Ab deckereien, Stellenvermittelung, Privatsparkassen und Apotheken ausgedehnt zu sehen, wandte dagegen sich sehr schar, gegen sine Kommunalisierung des Lebens- mittelhandels, zumal wenn die Gemeinden nicht zu gleich auch die Erzeugung der Waren in eigene Regie nehmen könnten. Die Außerkraftsetzung -es Artikels 61. ! Tie deutsche Note. » Den alliierten und assoziierten Negierungen ist von deni deutschen Vertreter in Versailles folgende Note übermittelt worden: „Die Deutsche Regierung stimmt mit der in der Note der alliierten und assoziierten Regierungen vom 11. September dargelegten Auffassung überein, dah, soweit die deutsche Verfassung und der Friedensver trag miteinander in Widerspruch stehen, die Verfassung nicht vorgehen kann. Sie hat bereits erklärt,, dah sie in Konsequenz dieses Standpunktes und indem sie die von den alliierten und assoziierten Negierungen verlangte Auslegung des Artikels 80 des Friedensver- traas 'annimmt, den Artikel 61 Abs. 2 der deut schen Verfassung als kraftlos erachtet, solange nicht der Völkerbundsrat einer entsprechenden Aende- rung der internationalen Lage Oesterreichs zugestimmt hat. Sie hat nichts dagegen einzuwenden, diese Er klärung nunmehr in der Form abzugeben, die in der Anlage der Note vom 11. September vorgeschlagen worden ist. Zu diesem Zwecke hat sie den Unter zeichneten mit der gehörigen Vollmacht versehen und ihn angewiesen, mit den Vertretern der alliierten und assoziierten Negierungen wegen des Zeitpunktes der Vollziehung der Erklärung in Verbindung zu treten. Im übrigen sieht sich die Deutsche Regierung genötigt, zu. den Ausführungen der alliierten und assoziierten Negierungen Folgendes zu bemerken: Es ist eine Entstellung des Wortlautes und Sin nes der Ausführungen der deutschen Note vom 6. Sep tember, wenn gesagt wird, die Deutsche Negierung wolle die Auffassung vertreten, dah kein Artikel der Verfassung wie sein klarer Wortlaut auch immer sei, mit dem Friedensvertrag im Widerspruch stehen könne, weil in der Verfassung ein anderer Artikel des Inhalts stehe, dah keine ihrer Vorschriften dem Friedeusvertrag Eintrag tun könne. Die Deutsche Ne gierung hat vielmehr die Bedeutung des in Rede ste henden Artikels 178 der Verfassung dahin gekennzeich net, dah er unter anderem den Zweck habe, jeden etwa hervortretenden Widerspruch zwischen dem Wort laut der Verfassung nnd den in ihrer Tragweite vielfach zweifelhaften Bestimmungen des Friedensver trages unter allen Umständen auszuschließen.. Dah anch der Artikel 80 des Friedensvertrages (Nichtausliefe rung von Deutschen) zu diesen in ihrer Tragweite nicht ohne weiteres klaren, unzweideutigen Bestim mungen gehört, zeigen die Ausführungen, womit die deutsche Regierung ihre ursprüngliche, von der Auffas sung der alliierten »ud assoziierten Negierungen ab weichende Auslegung des Artikels begründet hat. Nach einem allgemein anerkannten Rechtsgrundsatze dürfen Bestimmungen, die eine Beschränkung elementarer Grundrechte bedeuten, nicht in erweiterndem Sinne ausgelegt werden. Deutschland konnte nicht voraus sehen, dah abweichend von dieser Regel das Selbst- vesslmmungsrecht de>- voner. welches seine Gegner sS oft als eine» der Gnmdpsciler ihrer Friedensbedin- gnngen bezeichnet hatten, gerade für Dentschland und Oesterreich noch mehr beschränkt werden sollte, als der Wortlaut des Artikels 80 es zunächst erkennen lieh. ' Außerdem haben die allüMen und assoziierten Negierungen bei ihren Bemerkungen über den tikel 178 der Verfassung außer acht gelassen, dah eS sich bei der Verfassung eines St mteS um ein Gesetzt handelt, das seiner. Natur nach Vorschriften von grundsätzlichem und zeitlich unbeschränk tem Eh ar alter enthält. ES entspricht durchaus den üblichen Formen der Gesetzgebung, wenn in einem solchen Grundgesetz allgemeine Normen aufgcst'llt, da bei aber im Hinblick auf bereits vorliegende oder voraus,'»sehende Sondersälle Ausnahmen Vorbehalten werden Derartige Ausnahmen von der allgemeinen Regel heben diese Regel selbst keineswegs auf, zumal wenn die Ausnahmen, wie dies bei den in Betracht tommendcn Bestimmungen des Friedcnsvertrages zu- trifft, sich auf bestimmte Einzelfälle beziehen oder zeitlich beschränkt sind oder selbst eine spätere Ab änderung vorsehen. Tie Aufnahme des Artikels 178 in die deutsche Verfassung stellt daher keinen Kunst griff, sondern eine wohlbegründete, notwendige Maß? nähme dar. Es sind hi-rnach irrige Voraussetzungen, welche die alliierten und assoziierten Regierungen zu der mit den ausdrücklichen Erklärungen der deut schen Negierung im Widerspruch stehenden Schlußfol gerung gebracht haben, daß mit dem Artikel 61 Ab satz 2 eine Vertragsverletzung beabsichtigt gewesen sei. Die deutsche Regierung weist diese Unterstellung mit aller Schärfe zurück. Sie kann auch den ironischen, den inter nationalen Gepflogenheiten nicht entsprechenden Ton, mit dein die Note der alliierten und assoziierten Negierungen feierliche Erklärungen der deutschen Re gierung behandeln zu dürfen glaubt, nicht stillschwei gend hiunehmen. Die Tatsache, daß Deutschland den Krieg verloren hat, gibt seinen Gegnern nicht das Recht, sich einer Sprache zu bedienen, die den Zweck haben soll, Deutschland vor aller Welt zu ver letze». Die deutsche Regierung wird den alliierte« und assoziierten Regierungen auf diesem Wege nicht folgen. Die Herbeiführung eines wirklichen Friedens- Auslandes kann aber durch dieses Vorgehen der al liierten und assoziierten Mächte nur erschwert werden." DieSonderwimfchederMasuren. Eine große Masurenversammlung fand in Marg- grabowa statt, an der Städter und Landwirte und Angehörige aller Parteien teilnahmen. Nach einem mit großem Beifall aufgenommenen Vortrag von Dr. Fritz, Skowronnek wurde folgende Entschließung an genommen: Erstens: Unsere Ernte und damit die Ernäh rung des ganzen vom Reich abgeschnittenen Ostpreu ßen ist gefährdet, wenn die Reichsregierung unsere Getreidevorräte, von denen jetzt schon große Mengen durch Schmuggel nach Polen verloren gehen, uns ab nimmt uud ins Reich schafft. Die Schädigung unserer Mühlen, die Gefahr einer Beraubung der Hin- und Rücktransports auf dem Wege durch das Polnischs Westprs'tchen und nicht zuletzt auch die fürchterliche Kohlennot nötigen uns, gegen diese Absicht der Neichs- regierung de» schärfsten Einspruch zu erheben. Wir können auch den Ue bersch uß unserer Ernte nur dann abgeben, wenn die Reichsregierung uns da für mit Kohlen, Kali und anderen Düngemitteln versorgt. Zweitens verlangen wir von der Reichsregierung ausreichenden militärischen Schutz gegen die Ueber- griffe der Polen, die mit großer Beschleunigung Trup penmassen jenseits der Grenze anhänfen. Wir Ma suren im Abstimmungsgebiet wollen nicht das Schick sal Oberschlesiens erleiden und noch weniger eine Wie derholung der Grcueltaten erleben, die wir im Win ter 1914/15 erdulden mußten. In unserer Treue zum Deutschtum und zum Reich werden wir uns durch nichts wankend machen lassen, erwarten dafür aber auch vom Reich energischen Schutz unserer Ernährung und unseres Lebens. Diese Entschließung wurde telegraphisch weiter-gege ben an den Reichskanzler Bauer, den Minister Braun und den Oberpräsidenten Winnig. Die Entente und Kurland. Ei» Bericht an de» Oberste» Rat. General Hnghes gab vor dem Obersten Rat der Entente einen Bericht über die Lage der balti schen Länder. Er erklärte, daß die Bevölkerung dieser 'Länder durch die Gegenwart der deutschen Truppen gedrückr sei, und daß letztere in den baltischen Pro vinzen die politische Basis für eine deutsche Intervention in Rußland bildeten. Die deut schen Truppen unterstützten die baltischen Barone und leisteten den Reaktionären, welche die örtlichen Re gierungen gebildet hätten, Hilfe gegen die Sozialisten. Die deutschen Soldaten hätten sich in diesen Ländern, welche zur Kommunisicrung wie berufen seien, nie dergelassen und seien so eigentlich Agenten des deut schen Einflusses geworden. Die gegenwärtige Lage stelle sowohl eine militärische wie eine Politische Ge fahr dar. Deutschland könne, wenn es wolle, sich bei seinen Trnppen in den baltischen Ländern voll kommen Gehorsam verschaffen und die Leute des Ge nerals von der Goltz znrückrufen. Ein Kampf gegen Deutsche in Kurland. ! KIY bis 200 Mann reguläre lettische Truppen,