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KONGRESS-SAAL DEUTSCHES HYGIENE-MUSEUM Sonnabend, den 4. Dezember 1965, 19.30 Uhr Sonntag, den 5. Dezember 1965, 19.30 Uhr 5. AUSSERORDENTLICHES KONZERT Dirigent: Thomas Sandcrling, Berlin Solistin: Natalia Gutman, Sowjetunion Ludwig van Beethoven 1770 - 1827 1. Sinfonie C-Dur op. 21 Adagio molto - Allegro con brio Andante cantabile con moto Menuetto. Allegro molto e vivace Adagio - Allegro molto e vivace Joseph Haydn 1732 - 1809 Konzert für Violoncello und Orchester D-Dur Allegro moderato Adagio Rondo. Allegro PAUSE Dmitri Schostakowitsch geb. 1906 Konzert für Violoncello und Orchester op. 107 Allegretto Moderato Kadenz Allegro con moto Zum ersten Male THOMAS SANDERLING, Sohn des Chefdirigenten der Dresdner Staatskapelle und des Berliner Städtischen Sinfonieorchesters, Kurt Sandcrling, übrigens einer der Kandidaten für die Nachfolge Gerhard Rolf Bauers, erhielt bereits mit sechs Jahren Violin- ^PFrricht und wurde als Schüler an der Musikschule des Leningrader Konservatoriums aufgenommen. Prof. Michail Waiman unterrichtete den 14jährigen, der sein Studium danach an der Deutschen Hochschule für Musik in Berlin fortsetzte: Dirigieren bei Prof. Horst Förster, Violine bei Prof. Scholz. 1963 wurde Thomas Sanderling als Kapellmeister an das Staatliche Loh-Orchester Sondershausen verpflichtet, ein Jahr darauf folgte die Berufung als musikalischer Oberleiter des Staatlichen Vogtlandorchesters Reichenbach. Der junge Dirigent leitete bereits mehrfach das Berliner Städtische Sinfonie-Orchester und wird noch in dieser Spiel zeit in Lublin, Budapest sowie in der Sowjetunion gastieren. NATALIA GUTMAN wurde im Jahre 1942 geboren. Mit fünf Jahren begann sie bereits Cello zu spielen. Ersten Unterricht erhielt sic im Gnessin-Musikinstitut und in der Zentralmusikschulc in Moskau. Schon als Schülerin konzertierte Natalia Gutman in Riga, Kiew und Woronesch. Im Januar 1959 gab sie ihren ersten Soloabend, im Sommer des gleichen Jahres wurde sie beim Instrumcn- talistcn-Wcttbewerb während der Wcltfcstspiele der Jugend und Studenten in Wien mit dem ersten Preis und einer Goldmedaille ausgezeichnet. Im Herbst 1959 trat Natalia Gutman ins Moskauer Staatliche Konservatorium ein. 1961 errang die junge Künstlerin beim Allunionswettbewerb den zweiten Preis und beim Internationalen Dvoräk-Wettbewerb für Cellisten während des „Prager Frühlings“ den ersten Preis sowie eine Goldmedaille. Leopold Stokowski, der berühmte amerikanische Dirigent, sagte bei dieser Gelegenheit, daß das Konzert von Natalia Gutman den stärksten Eindruck während jenes „Prager Frühlings" auf ihn gemacht habe. Die junge Cellistin, die heute Aspirantin am Leningrader Konservatorium in der Klasse des sowjetischen Meistcrcellisten Rostropowitsch ist, gehörte beim zweiten Internationalen Tschaikowski-Wettbewcrb 1962 wiederum zu den Preisträgern. ZUR EINFÜHRUNG Ludwig van Beethovens 1. Sinfonie C-Dur op. 21, an der er vermutlich schon seit 1794 arbeitete, erlebte am 2. April 1800 im Wiener „National-Hof-Theater nächst der Burg“ unter Leitung des Komponisten ihre Uraufführung. Sie war das Schlußstück eines in damaliger Zeit nicht ungewöhnlichen Monsterprogramms, das außerdem eine Mozart- Sinfonie, eine Arie und ein Duett aus dem Haydnschen Oratorium „Die Schöpfung“ so wie ein Beethovensches Klavierkonzert, das Septett und ferner Klavierimprovisationen enthalten hatte. Wie sich in diesem ganzen Programm - des jungen Meisters erste eigene „Akademie“ - die Verehrung und Huldigung des 29jährigen Beethoven für seine Vor bilder Haydn und Mozart manifestierte, so bestätigte gerade sein sinfonischer Erstling die Äußerung des Grafen Waldstein, daß der junge Beethoven „durch ununterbrochenen Fleiß Mozarts Geist aus Haydns Händen erhalten“ habe. Beethovens 1. Sinfonie, die Carl Maria von Weber eine „feurig-strömende“ nannte und die fraglos das erste Gipfel werk des jungen Genius darstellt, wurde dank ihres lebensbejahenden, strahlend-heiteren Charakters, ihres stolzen Kraftbewußtseins schnell populär. Bereits im Jahre 1802 rühmte die Leipziger Allgemeine Musikalische Zeitung die Sinfonie als „geistreich, kräftig, originell“. Dasselbe Blatt bezeichnete das Werk drei Jahre später als das Muster „einer herrlichen Kunstschöpfung. Als Instrumente sind trefflich genutzt, ein ungemeiner Reich tum der Ideen ist darin prächtig und anmutig entfaltet, und doch herrscht überall Zu sammenhang, Ordnung und Licht.“ Die Sinfonie beginnt mit einer langsamen Einleitung (Adagio) - überraschenderweise auf dem breit ausgehaltenen Dominantseptimakkord von F-Dur, bis dann nach etwas un entschlossener Kadenzicrung G-Dur erreicht wird. Nach einer gleitenden Zweiund dreißigstelfigur erklingt sodann, von den Violinen gespielt, das prägnante, unbeschwerte C-Dur-Haupthema (Allegro con brio), während das G-Dur-Seitenthema auf Flöte und Oboe verteilt ist. Die knappe Durchführung ist von Mozartscher Feinheit und Durch sichtigkeit und verwandelt geistvoll das thematische Material. Ein Holzbläser-Unisono bildet den Übergang zur Coda, die den Satz festlich beschließt. Ein versonnen-liedhaftes Hauptthema gibt dem zweiten Satz (Andante), einem Sonaten satz nach Haydnschcm Vorbild, seinen edlen, schwärmerisch-innigen Charakter. Nur dem Namen nach ist der dritte Satz ein Menuett. Zwar ist die alte Tanzform noch zu erkennen, jedoch begegnen bereits die typischen Merkmale der späteren Bcethovenschen Scherzi: das spannungsgeladene, empordrängende Thema mit seiner kapriziösen rhythmischen Ge staltung und humorvollen Verarbeitung, die kontrastreiche Dynamik und nicht zuletzt das feurige Zeitmaß (Allegro molto e vivace). Die für das 18. Jahrhundert noch obligatorische Tradition des Menuettsatzes wird hier schon recht selbstherrlich, ja umstürzlerisch gehandhabt, ehe sie Beethoven von der 2. Sinfonie ab zugunsten des Scherzos gänzlich aufgibt. Deutlich hebt sich der Trioteil mit seinen Bläserakkorden und Geigenfiguren vom „Menuett“ ab. Nach einer kurios-tastenden Einleitung hebt das rondohaftc, turbulente Finale an mit seinem schwungvoll-vorwärtsstürmcndcn Hauptthema, seiner klaren, übersichtlichen Form und der geistreichen (sonatensatzähnlichen) Verarbeitung der musikalischen Gedanken.