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//7? nen, meilenweit'weg von aller Welt zu sein, die doch ganz nahe war. Als selbstverständlich wurde es angesehen, dass ein jeder sich nach feinem eigenen Wunsch und Willen unterhalten könne; zu den Stunden der Mahlzeiten und am Abende vereinten sich alle, aber tagsüber wahrte sich ein jeder seine Freiheit. Mehrere leichte Wagen, gute Pferde und Fahrradw standen den Gästen -ur Verfügung, meistens weilte ein Dutzend von ihnen -in diesem reizenden Tusculum, zum großen Teile junge Leute, die sich gern unterhielten. Francois sand bald, daß das Studium einer ausländischen Zivilisation -lnter solchen Umständen nur sein Gutes hat. Ta traf plötzlich ein Brief der Gräfin Rehnis ein, der ihren Sohn zum Lächeln veranlaßte. „Du findest deinen Beruf als Tourist also nicht mehr so beschwerlich wie am Anfänge, man gewöhnt sich an alles, selbst an eine Schar Menschen, welche die Ungeheuerlichkeit begeht, englisch zu sprechen, uni an Hotels, wo man dir eine Musterkarte der verschie denen abscheulichsten Geeichte und nie eine ordentliche Mahlzeit vorseht. Ich tröstete mich über deine üble Laune, indem ich mir sagte, daß jeden Sonnabend ein Dampfschiff nach Havre abgeht, und daß ein Reifem der, der nur geringe Lust zum Reisen hat, sehr rasch zurüükehren könnte. Wenn aber Newyork meinen Sohr zu langweilen schien, so muß Boston ihn offenbar in ungewohntem Grade befriedigen; es ist wohl die Stadi selbst oder eine der Borstädte, die ihrer Uniosrsitäi wegen berühmt ist? Tu schreibst mir wunderschön! Phrasen über die amerikanische Demokratie, die nach deinem Dafürhalten direkt von der athenischen stammt Mich dünkt, hinter dieser vielgerühmten Demokrat;« steckt nur eine BrüneUe mit blauen Augen. Es isi ganz hübsch, hinter einem Kontortisch und in der Näh« eines halb verfallenen Hühnerhoses eine neue Fami- milie gefunden zu haben, und ich bin die Letzte, di« die Stimme des Blutes in Abrede stellen will, abei trotzdem erscheint cs mir, daß in diesen amerikanischer Adern sehr wenig französische Blutkügelchen sich be merkbar machen. Tu, mein Francois, bist «nein ein ziger Sohn! Ich habe dich behütet, wie die Henner- Fräulein Luchs ihre Hühnchen wahren mögen; es iß mir gelungen, dich vor einer Armut zu retten, derer bitterste Seiten ich einst kennen gelernt; ich hasse der Mangel, das gestehe ich ganz offen! Ich verabscheu« jedes Schcinwescn, hinter dem sich das Elend ver birgt, und ich will dich davor geschützt wissen. Ick würde mich vielleicht gefügt haben, wenn du, gleich so vielen anderen, eine Amerikanerin geheiratet hättest die über Milliarden, oder wenigstens über Millioner -hätte verfügen können, denn man ist nun in unsere, Welt darüber einig, daß eine Abenteurerin von jen seits des Ozeans nur halb und halb als Abenteure rin zu betrachten sei. die Porzellanmalerei aber Hai mit den Millionen nichts zu schaffen! Laß mich nur den Gesamtinhalt meiner kleinen, mütterlichen Pre digt zusammenfasfen. Grüße unsere problematischer verwandten von mir und mißtraue den blauen Auger mit den schwarzen Wimpern, in denen du gar sc merkwürdige Tinge zu lesen meinst!" Francois dachte über die mütterliche Predigt nach und beantwortete dieselbe erst nach längerer Ueber- legung. ganz nach seinem Behagen. „Schlafe in Frieden, meine gute Mutter, die blauen Augen mit den schwarzen Wimpern betrachten deinen Sohn niit so freimütigem Wohlwollen, ohne jedes Bei- xiemisch von Verwirrung, daß meine Eitelkeit darunter leiden würde, wenn meine aufrichtige Freundschaft nicht auch losgelöst wäre von jedem verwirrenden Emp finden. Luch hat mich gewissermaßen als zweiten Bruder angenommen, säst möchte ich sagen, als Er- satzbrudcr, wie es Ersatzgeschworene gibt. Tu glaubst mir natürlich nur halb, denn, da du Mutter bist, siehst di« in deinem Sohne ein vollkommen unwider- slehlichcs Wesen, und wenn du dich auch einerseits freust, daß ich der Gefahr entgehe, zwangsweise von einer Porzellanmalerin geheiratet zu werden, so bist du doch andererseits heimlich entrüstet, daß diese Ge fahr eigentlich nur in deiner Phantasie entstanden ist. Soll ich dir bekennen, daß es einen, wenn guck) nur kurzen und flüchtigen Augenblick gegeben hat, wo ein wenig Groll sich in meine brüderlichen Empfindungen mengte? Ich habe dir von einem Sohne des Herrn Lewell-, von einem Krüppel, von einem Kranken ge schrieben. Wenn er Luchs ansichtig wird, nehmen ferne herrlichen Augen einen so intensiven Ausdruck an, daß ich mehr als einmal ernstlich darüber nachdenken muhte. Luch wird dort wie das Kind des Hauses behandelt, und da alle den armen Harry anbeten, ist es - ganz natürlich, daß meine Kusine dem Beispiel der anderen nachstrebt. Richtet sie das Wort an den Kran ken, so ist ihre Stimme von unendlicher Sanftmut und Zärtlichkeit, sie bleibt gern bei ihm, wenn die anderen Ausflüge unternehmen; sie liest ihm laut vor, sie erzählt ihm die geringfügigsten Einzelheiten unse res gemeinsamen Lebens, und er vergißt dann, daß er nur aus Krücken geht, daß Leiden und Tod gierig auf ihn lauern; ihm zu Liebe blicken die blauen Augen der kleinen Brünette zärtlich und leuchtend drein. Daß verdroß mich ein wenig. Eines Abends standen wir auf der Terrasse, welche eine prächtige Fernsicht über das Meer bietet. Du mußt wissen, daß, wenn die Tage in diesem Lande der reinen Atmosphäre wunderbar, froh, herrlich, sonnenhell und klar sind, wenn das Wasser die selt samsten Färbungen annimmt, welche bis in das opal- sarbene Hinüberschimmern, die Nächte noch eigenartiger genannt werden müssen. Der Ozean erscheint unend lich! Er verschmilzt am Horizont mit dem tiefblauen Himmel, welcher mit leuchtenden Sternen übersät ist, die weit größer scheinen als bei uns zu Hause. Als wir an jenem Abend gemeinsam aus der Terrasse stan den und auf das Meer hinabblickten, dessen Wellen zu unseren Füßen die Felsen bespülten, kam eine Art Trunkenheit über mich, noch nie war mir Lucy so hübsch erschienen; sie trug ein einfaches weißes Kleid, das ihr vortrefflich stand und schien in träumerischer Gemütsverfassung, was ihr nicht häufig zu geschehen pflegt. Durch irgend einen bösen Geist dazu getrieben, sprach ich in barschem Tone: „Ich kenne einen Kranken, den ich beneide, einen Unglücklichen, der recht glücklich ist!" Ueberrascht hob sie das Haupt empor und sah mich an. „Sprechen Sie von Harry Lewell? In der Tat, es steht Ihnen vortrefflich, Ihnen, den die Natur mit reichen Gütern bedacht hat, bösartig gegen einen Krüppel zu sein, denn in diesem Augenblcke, Fran cois, flnd Sie geradezu bösartig zu nennen." „Tie Neidischen sind immer bösartig, und ich neide nun einmal Harry Lewell die süßen Blicke, Ke Gsti ihm gönnen! Er liebt Sie und —" „Ich liebe ihn, wollen Sie -behaupten! DaS Ist wohl möglich; ich weiß nicht, was Sie Liebe nennen; wenn diese aber aus unendlichem Mitleid, aus gren zenloser Bewunderung, aus inniger, warmer Zärtlich keit hervorgeht, ja, dann liebe ich den armen Harry! Wer sollte ihn lieben! Er hat nie einen Tag gekannt, an dem er frei von Leid gewesen wäre, und nie« inand. hörte ihn jemals klagen. Anstatt den Himmel zur Rechenschaft zu ziehen, anstatt dem Leben zu fluchen, bewundert er alles, was schön, edel und er haben ist, dankt er dem Ewigen, daß er ihm die Fähig keit gegeben, die menschliche Natur zu verstehen, welche so viel verleumdet wird. Er empfindet kein Bedürfnis nach dem öffentlichen Mitleid; er ist eine große, eine erhabene Seele! Schon als ich noch ein Kind gewesen, liebte er es, mich um sich zu haben, und mit Freuden tat ich ihm meine innige Zärtlichkeit dar!" „Sie werden schließlich auch noch so tveit gehen, aus Mitleid diese Parodie auf einen Mann zu hei raten, Päschen! Die Frauen sind jedes denkbaren Wahnsinnes fähig, wenn sie für denselben nur eine schöne, klangvolle Begründung wissen!" Infolge dieser meiner Worte zog sich Lucy ein klein wenig von mir zurück, erwiderte jedoch ruhig, wenn auch einigermaßen kalt: „Von einer Ehe kann natürlich zwischen UNS nun -und nimmermehr die Rede sein!" Ich war von übler Laune, von dem geheimen Wunsche, sie zu verletzen, ihr positiven Schmerz zu bereiten, derartig besessen, daß ich, ohne es zu wissen, was ich eigentlich sagte, heftig hervorstieß: „Es kann wohl um so weuiger davon die Rede sein, als man Ihr Opfer leicht aus anderen Beweggründen hervorgehend betrachten könnte!" Beschämt hielt ich inne, denn ich sah ein, wi« niedrig das sei, was ich hatte andeuten wollen! Sie vollendete anstatt meiner den Satz: „Sie denken sich, man könnte eine Berechnung des eigenen Vorteils darin sehen? Nein, lieber Vetter, j^ne, die mich kennen, werden einen so niedrigen Ver dacht nicht schöpfen, jene, die mich ebenso verkennen, wie Sie es in diesem Augenblicke tun und mich einer solchen Berechnung für fähig halten, würden von mir auch nicht mit einem einzigen Worte widerlegt." „Verzeihen Sie mir, Luch, ich flehe Sie darum au! Mir scheint es fürwahr selbst, als ob ick) heute abend verrückt sei, als ob ich nur trachte, Ihnen weh zu tun, um Sie aus Ihrer friedlichen, heiteren Ruhe, die Ihnen zur zweiten Natur geworden zu sein scheint, auszurütteln." „Und weshalb sollte das in Ihrer Absicht lie gen?" fragte Luch. „Weshalb? Sagen Sie mir doch, mein hübsches Väschen, ob Sie Harrh Lewell wirklich nur wie einen Bruder lieben, etwa so wie mich? Hat denn Ihr Herz noch gar nie geschlagen?" Sre lachte fröhlich auf; der Zorn, der sie noch vor wenigen Sekunden bewegt hatte, war verraucht. „Sie wollen mir, wie ich sehe, die Beichte ab nehmen, aber das -ist bei uns nicht Sitte, wir haben unsere kleinen Geheimnisse in dem verborgensten Win kel unseres Herzens; trotzdem bin ich nicht abgeneigt, Ihre indiskrete Neugierde ein- für allcnial zu be friedigen. Ich habe an der Seite meines Bruders Frank ein so beglückendes, intimes Familienleben ge führt, daß ich vermutlich nur dieser einen Neigung fähig bin, ich glaube, ich bin einzig und allein zur Schwester geboren; meine Freundinnen erzählen mir ihre Herzensgeheimnisse, ja sogar ihre Tändeleien! Man beglückt mich mit vielen Mitteilungen, ich aber meinerseits kann solche niemandem machen, weil ich wirklich nicht wüßte, was ich zu erzählen ljätte! Zu- ' weilen freilich, Vetter, ich will es nur ganz ehrlich gestehen, wenn die Sterne so auf mich niederblicken, wie sie es im gegenwärtigen Moment tun, bedaure ich es sogar ein wenig." „Nun weißt du, liebe Mutter, weswegen du im Unrecht bist, wenn du die blauen Augen mit den schwar zen Wimpern fürchtest, in denen ich, wie du dir ein- bildcst, gar so viele schöne Dinge zu lesen imstande sei! Diese Augen haben mich, wie ich dir auf Ehre und Gewissen versichern kann, nur eine Bescheidenheit gelehrt, die mir bis jetzt sremd geblieben war. Da ich aber schon einmal im Begriffe bin, ver trauliche Mitteilungen abzulegen, und dieser Brief den Umfang eines Bitches annimmt, will ich dir nicht ein^ Eindruck zurücklassen, der für deine mütterliche Eigen liebe schmerzlich sein müßte! Ich habe dir bereits erzählt, daß in dem gastlichen Hause des Herrn Le well viele Besuche, vorzüglich junge Mädchen, Freun dinnen der Damen des Hauses, sich zusammensinden. - LIK (Fortfetzung folgt.) Mm Mmnia mim imMt