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Von Mathias Georg Monn Hegt ein für die Kürze seiner Lebenszeit sehr umfang reiches Schaffen vor, das vor allem kirchliche Vokalkompositione, Sinfonien, Instrumentalkonzerte, Quartette und Klavieiwerke umfaßt und den Komponisten - namentlich in seiner Sinfonik - als einen in die Zukunft weisenden Meister der Vorklassik auf Wiener Boden ausweist. Das heute auf dem Programm stehende Konzert für Violoncello und Orchester g-Moll, ein klanglich sehr reizvolles Werk, besticht vor allem durch seine für den Kompo nisten charakteristische reiche Melodik und die Frische seiner Erfindung; stilistisch zeigt es deutliche Kennzeichen der Übergangszeit. Kraftvoll-besrimmt gibt sich der erste Satz, dessen Hauptgedanke ein energisches Motiv bildet, gefolgt von einem kontrastierenden, graziösen Nachsatz. Ein gesang liches Largo im 12 /8-Takt, in Es-Dur stehend, folgt als langsamer Mittelsa^. Das Hauptthema wechselt hier ständig zwischen Orchester und Soloinstrument und wird vom Violoncello mit reichem Figurenwerk ausgeschmückt und fortgesponnen. Den Beschluß bringt ein spielfreudiger, wirkungsvoller Allegro-Satj. Peter lljitsch Tschaikowskis 6. Sinfonie h-Moll op 74 entstand 1893, im letjtfl Lebensjahre des Komponisten, und wurde kurze Zeit vor dem Tode des größere russischen Meisters in Petersburg urauf geführt. Tschaikowski, der das Werk selbst dirigierte, trat damit zum lebten Male in der Öffentlichkeit auf. Die »Sechste«, das letzte große Werk des Komponisten, stellt schlechthin einen Gipfelpunkt in seinem gesamten Schaffen dar. Sie wurde tatsächlich sein »bestes Werk«, wie Tschaikowski mehrfach während der Arbeit an der Sinfonie geäußert hatte. Sie wurde zugleich sein Requiem. Briefstellen des 53jährigen Tschaikowski zeigen, aus welcher Situation heraus die »Sechste« entstanden ist. Die äußeren Lebensumstände des Meisters waren mit zunehmendem Alter durch sich steigernde Ruhelosigkeit, innere Gegensätzlichkeit und Zerrissenheit gekennzeichnet. Nur die Flucht in rastloses Schaffen verhalf ihm zu relativem Gleichgewicht. Leidenschaftlichster unmittelbarer Ausdruck der ihn bewegenden, ja fast zerreißenden Gegensätze wurde seine Sechste Sinfonie. Wie viele seiner letzten Werke ist auch die »Sechste« von leidvollen Stimmungen durchzogen, aber nie im Sinne pessemistischer Hoffnungslosigkeit, Todessehnsucht oder willenloser Passivität. Auch im Ausdruck des Tragischen, der Klage, schwingt bei Tschaikowski seine leidenschaftliche Liebe zum Leben mit. Der inhaltliche Schwerpunkt der Sinfonie ist wohl der erste Satz, ein komplizierter Sonatenhauptsatz. Bereits in der melancholischen Adagio-Einleitung spricht sich das Kernmotiv des nachfolgenden Allegro-Satzes aus, dort allerdings ins Erregte gesteigert. Lichter, freudvoller ist das kontrastierende zweite Thema angelegt. Aus dem Kampf dieser konträren Stimmungen entwickelt sich eine teils leidenschaftlich dramatische, teils lyrisch-innige Musik, auf die sich die von Tschaikowskis Bruder Modest stammende »Pathetique« bezieht. Der zweite Satj hat elegant-tänzerischen, ja walzerartigen Charakter. Der ungewöhnliche ®/4-Rhythmus verweist auf die russisdj|| Volksmusik. Heitere, anmutige Stimmungen herrschen vor, lediglich im Mitteln^ klingen die Nachtseiten des vorangegangenen Satjes als monotone Melancholie herein. Der dritte Sa§, teils wispernd, teils schwungvoll mitreißend, ist ein mäch tiger Bau, der Scherzo und Marsch innig verknüpft. Abweichend von der Tradition des sinfonischen Zyklus, hat Tschaikowski als Finale einen langsamen Satj ge schrieben, ein Adagio lamentoso, das in seiner tragischen Haltung an den ersten Satz anschließt, in seiner Schilderung des Leides in denkbar großem Gegensatz zu den beiden lebensbejahenden Mittelsätzen steht. Zwei Themen stehen miteinander in einem gespannten Verhältnis. Die Coda ist inhaltlich der Einleitung der Sinfonie verwandt. Ein Bogen wird geschlagen, ein Kreis geschlossen. Anfangs- und Schluß klang entsprechen sich fast völlig: tiefe Streicher und Fagott in tiefster Lage in Molldreiklängen. II1/9/92 IG 59/10/60 Urte Härtwig / Dr. Dieter Härtwig