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ZUR EINFÜHRUNG Hans Werner Hen~e, der nach musikalischen Studien in Braunschweig 1946 Schüler von Wolf gang Fortncr und 1948 von dem französischen Schönberg-Schüler Rene Lcibowitz wurde, danach vorwiegend in der praktischen Thcatcrarbcit stand, wird nachgerühmt, der interessanteste, vielseitigste und bedeutendste Vertreter der jungen Komponistcngencration Westdeutschlands zu sein. In der Tat ist er mit einer Reihe erfolgreicher Werke wie den Opern „Das Wunder theater“, „Boulevard Solitude“ (der Manon-Lescaut-Stoff!), „Ein Landarzt“ (nach Kafka), „König Hirsch“, „Elegie für junge Liebende“, drei Sinfonien, einem Violinkonzert, der „Ode an den Westwind“ für Cello und Orchester, den „Fünf Neapolitanischen Liedern“ und anderem mehr hervorgetreten. In seinen frühesten Werken ist naturgemäß der Einfluß seines Lehrers Fortncr, aber auch Strawinskis spürbar. Dann erschloß ihm Lcibowitz die Komposition mit 12 einander gleichberechtigten Tönen, der er sich aber nicht dogmatisch zuwandte. Er selbst bekannte einmal: „Das Zwölftonproblcm spielt in meiner Musik keine große Rolle, es war mir immer ein aus schließlich technisches Mittel. Mir ist cs stets um die musikalische Substanz gegangen, besonders um das Melodische. In meinen ersten Stücken (bis zur 2. Sinfonie) war die Faktur simpler und oft primitiv, aber das Melodische - und, in zweiter Linie, das beständige Bestreben, das klang liche und harmonische Problem zu lösen - war vorherrschend.“ Dieses Bekenntnis nimmt für Henze ein, auch die Tatsache, daß er keineswegs zum extremen Flügel der sogenannten westlichen Avantgardisten gehört. Übrigens beteiligte er sich auch an einer bisher einmaligen Zusammen arbeit namhafter deutscher Komponisten der beiden deutschen Staaten, an der gemeinsam mit Paul Dessau, Rudolf Wagner-Regeny, Boris Blacher und Karl Amadeus Hartmann auf einen Text von Jens Gcrlach geschriebenen „Jüdischen Chronik“, die ein Ereignis aus dem antifaschistischen Widerstandskampf, den Aufstand im Warschauer Ghetto, zum Thema hat. Freilich ist aber auch sein Schaffen nicht frei von gewissen zwiespältig-snobistischen Elementen, mit denen er seinen Tribut westlichem Sensationshunger zollte. Das ihm besonders liegende Feld des Musikdrama tischen hat er auch mit mehreren Ballcttkompositioncn bedacht, die angeregt wurden durch sein Wirken in den Theatern Konstanz’ und Wiesbadens (hier 1949 bis 1952 künstlerischer Leiter des Ballettes). Es können lediglich genannt werden die Ballette „Rosa Silber“ (nach Paul Klee), „Der Idiot“ (nach Dostojewski), „Jack Pudding“ und vor allem das abendfüllende, dreiaktige Märchen ballett „Undine“ (1957), das im Auftrage des Londoner Königlichen, ehemaligen Sadler’s-Wclls- Ballctts komponiert wurde, im engsten Kontakt mit dem Chcfchoreographcn Frederick Ashton, der auch die Uraufführung (1958) mit Margot Fonteyn in der Titelrolle szenisch betreute. Die „Undine“, nach Friedrich de la Motte-Fouques altem deutschem Märchenstoff (1811) von dem kühlen, seelenlosen Zauberwesen Undine gestaltet, den schon E. Th. A. Hoffmann und Albert Lortzing auf die Opernbühne brachten, entstammt Henzes jüngster Schaffensperiodc, die durch eine starke stoffliche und musikalische Hinwendung zur Romantik gekennzeichnet ist. Seit 1953 hält er sich in Italien auf. Hier erfolgte auch seine grundlegende stilistische Wand lung, der Durchbruch romantisch-impressionistischer Kräfte, die schon im Schaffen des Reihenmusikers vor dem versteckt spürbar gewesen waren. Der Undine-Stoff provozierte vollends den romantischen Klang- und Ausdrucksmusiker in Henze. Die Handlung wurde nach Süditalien verlegt, die höfisch-ritterlichen Figuren in schlichte Landlcute verwandelt. Geblieben aber ist das Geisterwesen Undine in seiner dämonischen Umwelt. Der in unserem Konzert erklingende Ausschnitt aus dem Ballett ist die „Spiel der Tritonen“ bezeichnete Episode, bei der zu dem Orchester ein obligat behandeltes Klavier tritt (die Tritonen waren nach altgriechischer Vorstellung seltsam-dämonische Fabelwesen, die, halb Mensch, halb Delphin, als Meergötter fungierten). Diese Episode wird aufgebaut auf einer thematischen Grundfigur, die gleich zu Beginn in den Streichern erklingt. Sic besteht aus zwei Teilen, einem stufenförmig in bizarren Intervallen aufwärtsschreitendem Motiv und einem auf charakteristische Triolenbewcgung gestellten Motiv. Diese motivischen Gestalten, zu denen sich noch einige Nebengedanken gesellen, werden nach dem Variationsprinzip durch das ganze Stück hindurch fortwährend abgcwandclt, bis sie kaum mehr erkennbar sind; gelegentlich treten sic auch in der Originalgestalt wieder auf. Die Großform zerfällt in zahlreiche inhaltlich und metrisch kontrastie rende Teile, ohne daß eine zwingende organische Verbindung besteht. Zwölftönigkcit begegnet nirgends, obwohl gewisse sprunghafte Stimmführungen das vermuten lassen könnten. Dafür huldigt Henze hier in der Wahl seiner Mittel einem unbekümmerten Eklektizismus: da kommen tonale Dreiklänge vor, übermäßige und verminderte Akkorde ä la Wagner, Debussy, Puccini, virtuose Klavierpassagen, -kadenzen und -akkordbrcchungcn von Scarlatti bis Liszt, bitonalc Bildungen, neapolitanische Volksmusik, Horntcrzcn und Walzerstimmung, die an R. Strauss erinnern, eine Fagottstelle, die Tschaikowskis „Sechster“ entsprungen zu sein scheint usw. Diese stilistische Planlosigkeit ist jedoch in ein raffiniert-diffiziles, klangsinnliches Instrumcntationskleid gehüllt bei ständigem dynamischem Farbwechsel. Die zahlreichen rhythmischen Effekte weisen auf die tänzerische Bestimmung hin. Eine der schillerndsten Persönlichkeiten der Musikgeschichte war der große italienische Geigen virtuose Nicolo Paganini, der geradezu berauschende Wirkungen auf seine Zeitgenossen in Italien, Deutschland und Frankreich ausübte. Das Dämonisch-Abenteuerliche seiner Person führte im Bunde mit seinen einmaligen, phänomenalen geigerischen Fertigkeiten dazu, daß man ihn sogar der Zauberei verdächtigte oder ihn mit Geistern und der Hölle im Bunde glaubte. Paganini, von gelegentlichem Gcigcnuntcrricht abgesehen eigentlich Autodidakt, vereinte in seiner Person „was andere vereinzelt auszcichnetc: einen hinreißend ausdrucksvollen Vortrag, einen wunderbar großen und dabei doch der verschiedensten Stärkegrade sowie des mannigfaltigsten Timbres und Kolorits fähigen Ton, ein zauberhaftes, wie in Sphärenklängen verhallendes Flageolett, Gegen sätze im Legato und Stakkato, wie man sic vor ihm nicht gekannt, doppelgriffige Gänge, die niemand außer ihm auszuführen vermochte, Pizzikatos, gleichviel, ob mit der rechten oder der linken Hand, deren springende Passagen jedem anderen Geiger den Hals gebrochen haben würde, und, außer seiner fabelhaften Technik, jene dämonische Leidenschaftlichkeit, die ihm allein eigen war. Sprang ihm eine Saite, ja zwei Saiten, so spielte er auf den übriggeblicbcncn, soweit es deren