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ZUR EINFÜHRUNG Igor Strawinski überraschte von Anbeginn seiner Tätigkeit mit einer bewunderungs würdigen Orchestertechnik, nicht umsonst war er Schüler des damals fortschrittlichsten Meisters der Orchesterbehandlung, des ,,Magier des Orchesters“ Nikolai Rimski-Korsakow. Als Sohn eines namhaften Opernbassisten 1882 in Oranienburg (bei Petersburg) geboren, studierte er in Petersburg, lebte während des ersten Weltkriegs in der Westschweiz, seit 1921 in Biarritz, dann in Nizza, in Voreppe bei Grenoble, seit 1934 in Paris, 1938 wurde er amerikanischer Bürger. Strawinski begann seine kompositorische Tätigkeit, indem er russische Themen mit den Einflüssen des französischen Impressionismus Debussys mischte, beispielsweise in seinem ,,Frühlingsopfer“ (Sacre du printemps). „Stärkstens wurde Strawinski als Führer der Jugend (Hindemith, Honegger, Orff u. a.) empfunden, als er in einer zweiten Schaffensperiode (etwa 1912—1920) sich einer Motorik verschrieb, die ent weder durch maschinenhaftes Gleichmaß viele hypnotisierte oder durch verwickelte Addi tion ungleicher Zählzeiten zunächst ungewohnte Schwierigkeiten bereitete. Vor allem wirkten brutale Akkordschläge wie elementare Kraftentladungen. Bewundernswert war die Neuheit der Klangeffekte (Feuervogel), die Gabe der Darstellung des unheimlich Urtüm lichen (Frühlingsopfer), lärmende Folkloristik (Bauernhochzeit), puppenhafte Typik (Ge schichte vom Soldaten) und groteske Gestik (Petruschka).“ (H. J. Moser.) Zuletzt wandte sich Strawinski einer Neu-Klassik zu, er verwandte barocke Ornamentik, gab der Melodie neuerlich Gewicht, fand sogar den Weg zur Tonalität (Sinfonie in C-Dur!). Er ist ein Künst ler und ein Artist von feinstem Instinkt und ausgesuchter Intelligenz, der jedoch jedem Gefühlsüberschwang als romantischem Ballast ausweicht. Strawinski nennt sein Werk für großes Orchester: „Le sacre du printemps, tableaux de la russie paienne en deux parties“ - Frühlingsopfer, Bilder aus dem heidnischen Rußland in zwei Teilen. Der erste Teil „Die Anbetung der Erde“ besteht aus folgenden Untertiteln: „Introduction“ (= Einführung), „Die Vorboten des Frühlings und der Tanz der Jünglinge“, „Spiel der Entführung“, „Früh lingsreigen“, ,,Kampfspiele der feindlichen Städte“, „Auftritt der Weisen“ und „Tanz der Erde“. Der zweite Teil „Das Opfer“ setzt sich aus den Unterteilen zusammen: „Introduc tion“, „Geheimnisvoller Kreis der Mädchen“, „Verherrlichung der Aus erwählten“, „An rufung der Ahnen“, „Opfertanz der Ahnen“ und „Heiliger Tanz der Aus erwählt en“. In der 1 Partitur sind alle diese Titel und Untertitel französisch genannt, aber vor jedem Titel steht die Bezeichnung nochmals (von Strawinski angegeben) in russischer Sprache — ein erneuter Beweis dafür, daß Strawinski trotz der musikalischen Bindung an den französischen Im pressionismus das Motiv aus dem Russischen geschöpft hat. Der Begriff Impressionismus ist aus der bildenden Kunst übernommen worden, er gibt uns den stimmungsmäßigen „Eindruck“ eines Geschehens wieder (impressio = der Ein druck). Rein musikalisch-technisch ist dazu zu sagen: „In der Klassik wurde der Ton als Dreiklangsbestandteil gehört, in der Romantik als Leitton, Debussy entdeckt ihn als ,rei nen* Klang, als elementar akustische Wirkung, unabhängig von funktionalen Beziehungen der Töne und Akkorde zueinander — so ist mit dem Impressionismus der denkbar größte innere Abstand von der Klassik erreicht (K. Westphal).“ Noch weiter geht der Expressio nismus, der eine noch schiefere Wortübertragung aus der bildenden Kunst ist, „eine krisen hafte Erhitzung als letzte Steigerung der hochromantischen Dissonanz Verschärfung (H. J. Moser)“. Expressio heißt: der Ausdruck, und eigentlich ist jede Musik Ausdruckskunst. Wenn man will, ist der Expressionismus die absoluteste der absoluten Musik, so beispiels weise schon die „Salome“ und die „Elektra“ von Richard Strauß oder „Sacre du prin temps“ von Strawinski. Jedenfalls berühren sich beide „ismen“ in den jungen Liebesliedern, in den „Sieben frühen Liedern“ von Alban Berg — der Impressionismus in der Stimmungs kunst, der Expressionismus in der Zwölftontechnik. Entscheidend bleibt der Eindruck der Geschlossenheit, die der Autor, wenn auch mit ganz anderen technischen Mitteln, zweifels ohne erreicht. Alban Berg — geboren am 9. Februar 1885 zu Wien, gestorben am 24. De zember 1935 ebenda — war Schüler von Arnold Schönberg, dem Vertreter der Zwölfton lehre. Das Werk Alban Bergs gipfelt in seinen beiden Opern, dem „Wozzek“ und der unvollendet gebliebenen „Lulu“. Das übrige Schaffen — darunter die sieben frühen Lieder — ist bescheiden an Zahl, aber bedeutend an Gewicht in der Geschichte der neuen Lehre. Tschaikowski schreibt über seine fünfte Sinfonie in e-Moll an die „Geliebte Freundin“, an Frau von Meck, im Jahre 1888: „Ich will eine neue Sinfonie schreiben und habe viel gearbeitet. Die Hälfte ist bereits fertig instrumentiert . . .** und ein Vierteljahr darauf (aus Petersburg): „Ich dirigierte in einem Konzert der Musikalischen Gesellschaft meine Ouver türe zu ,Hamlet* und meine fünfte Sinfonie. Beide Werke wurden gut aufgenommen. Überhaupt findet meine Musik mehr Anklang in Petersburg als irgendwoanders . . .“ Einige Zeit danach weiß er jedoch in bekannter Bescheidenheit und in kritischer Selbst kritik zu klagen: „Meine beiden Konzerte sind gut ausgefallen, ich bin aber traurig. Nach jeder Aufführung meiner neuen (fünften) Sinfonie empfinde ich immer stärker, daß dieses Werk mir mißlungen ist. Die Sinfonie erscheint mir zu bunt, zu künstlich, zu lang, überhaupt unsympathisch. Mit Ausnahme von Tanejew, der hartnäckig behauptet, meine fünfte Sinfonie sei mein bestes Werk, sind meine anderen Freunde wenig erbaut von ihr. Ist das möglich, daß ich, wie man sagt, mich „ausgeschrieben“ habe? Ist das der Anfang vom Ende? Es wäre ja entsetzlich! Nun, die Zukunft wird mir zeigen, ob ich recht habe. Jedenfalls bedaure ich sehr, daß die Sinfonie von 1888 schlechter ist als die von 1877 (die vierte in f-Moll) . . .“ Und im nächsten Jahre jubelt er wieder: „Meine fünfte Sinfonie hatte in Hamburg einen enormen Erfolg. Ich wurde wie ein alter Freund empfangen !** Längst hat die Zukunft gezeigt, daß die fünfte Sinfonie, gleichermaßen wie die vierte und die' sechste Sinfonie (die „Pathetique“ in h-Moll), zu den größten Werken Tschai kowskis gehört. Diese drei bedeutendsten Sinfonien behandeln dasselbe Thema: Der Kampf mit dem Schicksal! Das Thema wird gleich an den Anfang der fünften Sinfonie gestellt, wie Tschaikowski selber in seinen Skizzen sagt: „Introduktion: Völlige Ergebung in das Schicksal oder, was dasselbe ist, in den unergründlichen Ratschluß der Vorsehung!“ Selbst im zweiten, lyrischen Satz und sogar im nachfolgenden Scherzo (das wieder ein Walzer ist) kann man den Mahnruf des Schicksals heraushören. Der letzte Satz, das Finale, bedeutet den ersten drei Sätzen gegenüber den endgültigen Sieg der Lebensbejahung, er wird vom Moll zum Dur gesteigert. Prof. Dr. Hans Mlynarczyk