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KONGRESS-SAAL DEUTSCHES HYGIENE-MUSEUM Sonnabend, 4. März 1961, 20 Uhr Sonntag, 5. März 1961, 19.30 Uhr 9. Außerordentliches Konzert D I RI GENT Prof. Heinz Bongartz SOLISTIN Janine Andrade, Paris JOHANN SEBASTIAN BACH 1685—1750 Brandenburgisches Konzert Nr. 3 G-Dur Allegro moderato Adagio Allegro LUDWIG VAN BEETHOVEN 1770—1827 Konzert für Violine und Orchester D-Dur op. 61 Allegro ma non troppo Larghetto Rondo — allegro PAUSE PETER TSCHAIKOWSKI 1840—1893 Konzert für Violine und Orchester D-Dur op. 35 Allegro moderato Canzonetta Finale: Allegro vivacissimo ZUR EINFÜHRUNG Johann Sebastian Bach hat mit seinen sechs Brandenburgischen Konzerten, die er 1721 — während seiner Kapellmeistertätigkeit in Köthen — dem Markgrafen Christian Ludwig von Brandenburg widmete und die er „Konzerte mit mehre ren Instrumenten“ nannte, den absoluten Gipfelpunkt spätbarocker deutscher Instrumentalmusik geschaffen. Wie Händel in seinen Concerti grossi ging auch Bach auf italienische Barockmeister, Corelli, Vivaldi usw. zurück, gab aber der Gattung des „Concertos“ durchaus mehr Eigenes als sein großer Zeitgenosse. Wohl musiziert auch er in den Brandenburgischen Konzerten im Sinne der Con certi grossi, d. h. wechselnd zwischen dem Tutti, dem gesamten Orchester und dem Concertino, einer Gruppe von Soloinstrumenten, erfüllt jedoch die tradi tionelle Form mit einem ganz neuen, persönlichen Geist. Hinsichtlich Vielseitig keit der immer kammermusikalischen Besetzung, Dichte der polyphon-motivi schen Satzarbeit, Geistigkeit, Empfindungsgehalt und Klarheit der Form sind Bachs Brandenburgischen Konzerten in der späteren Musikgeschichte kaum gleichwertige Leistungen in dieser Gattung gegenüberzustellen. Im dritten, heute erklingenden Brandenburgischen Konzert in G-Dur knüpfte Bach an die altvenezianische Mehrchörigkeit an, d. h., er läßt ein mehrfach besetztes Streichorchester „per choros“, mit wechselnden Chören, konzertieren. Concertinoartig sind aus dem Tutti des Streichorchesters drei Sologruppen, je drei Violinen, Bratschen und Celli, herausgelöst, die mit der vollen Orchester besetzung „Wettstreiten“. Die zwei Sätze des Werkes werden durch zwei lang gehaltene kadenzierende Akkorde verbunden. Aus dem hinreißend-schwungvollen Hauptthema des ersten Satzes, vom Tutti zu Beginn vorgetragen, entwickelt sich der großartige, logisch zwingende Aufbau dieses Satzes. Zwischen zehn Tuttiepisoden werfen sich die solistischen Instru mentalgruppen das Hauptmotiv — und auch Seitengedanken — in einem geist reichen, immer bis ins letzte konzentrierten Spiel zu. Besonders kraftvoll wirkt die Schlußsteigerung. Die „durchbrochene“ Satztechnik des Stückes nimmt das voraus, was die Musikwissenschaft bei Joseph Haydn, 50 Jahre später, als the ¬ matische Arbeit bezeichnet. Weniger festlich ist die Stimmung des zweiten Satzes, der in stürmisch-wirbligem 12 / 8 -Rhythmus unaufhörlich dahineilt. Eine uner hört dichte, geistvolle Kontrapunktik kennzeichnet auch diesen Satz. Ludwig van Beethovens einziges Violinkonzert D-Dur, op. 61, aus dem Jahre 1806 entstand in unmittelbarer Nachbarschaft mit der 4. Sinfonie, dem 4. Klavier konzert und den Rasumowski-Quartetten. Das Konzert, das wohl das bedeutend ste dieser Gattung überhaupt ist, demzufolge zu den Standardwerken der Violin- literatur gehört, hatte Beethoven für den Konzertmeister des Theaters an der Wien, Franz Clement, komponiert, der es auch am 23. Dezember 1806 urauf führte, ohne allerdings damit eine restlos befriedigende Resonanz bei der Kritik finden zu können. In einzigartiger Weise sind im Beethovenschen Violinkonzert die ganz eigenen Möglichkeiten des Instrumentes erfaßt. Das Werk ist lyrisch, gefühlsbetont und ist als erstes seiner Art zum Prüfstein geigerischer Kunst geworden, obwohl es eigentlich nur im Finale ausgesprochene Virtuosität fordert. Vollendung der Form, Tiefe und Schönheit der Gedanken, idealer Ausdruck klassischen Humanismus — das sind Vorzüge des Werkes, das bei aller Univer salität des zur Darstellung gelangenden Weltbildes jedoch mehr zu gelassener Ausgewogenheit als zur Überwindung dialektischer Spannungen neigt. Vier leise Paukenschläge, die im ganzen Satzverlauf späterhin motivische Bedeu tung haben, eröffnen die Orchestereinleitung des ersten Satzes (Allegro ma non troppo), die das thematische Material mit sinfonischer Impulsivität an das Solo instrument weitergibt. Zwei Themen werden entwickelt. In den Oboen, Klari netten und Fagotten erklingt zunächst das gesangvolle Hauptthema, dem nach einem energischen Zwischensatz ein zweites lyrisches D-Dur-Thema der Holz bläser von bezaubernder Schlichtheit folgt. Nach der Entwicklung dieses Themas, die zu einem kraftvollen Höhepunkt mit einer neuen daraus hervorwachsenden Melodie führt, setzt die Sologeige, zurückhaltend von Bläsern und Pauken beglei tet, mit leichter Abwandlung des Hauptthemas in hoher Lage ein. Und nun beginnt ein herrlicher Zwiegesang mit dem Orchester. In kaum zu beschreibender Schönheit fließt der Klang der Sologeige über dem Orchester hin oder begleitet es mit beseelten Passagen. Auch nach einem zweiten kräftigen Orchestertutti setzt sich der verklärte, melodische Gesang des Soloinstrumentes fort. Nach der Durchführung kehren in der Reprise die musikalischen Haupt- und Neben gedanken wieder, vom Orchester wesentlich getragen. Figurenreich ist der Part der Violine, der schließlich in die Solokadenz mündet. Der Schlußteil — mit seiner besonderen Berücksichtigung des zweiten Themas — schließt mit einem schwungvoll-energischen Aufstieg der Geige. Romanzencharakter besitzt das anschließende G-Dur-Larghetto, dessen erstes Thema, von gedämpften Streichern angestimmt, zu den Hörnern, Klarinetten und Fagotten überwechselt und von Passagen und Trillern der Solovioline kom mentiert wird. Ein zweites lyrisches Thema gesellt sich nach einem Höhepunkt hinzu, von der Geige vorgcstellt. Mit einer Kadenz leitet das Soloinstrument zum Rondo-Finale (Allegro) über und übernimmt sogleich mit einem fröhlichen, dreiklangsbetonten Hauptthema die Führung, die es nunmehr durchgehend dem „Refrain“ des Orchesters gegenüber beibehält. Der tänzerische Elan dieses Satzes, der formal zwischen Rondo und Sonatensatz steht, durch heitere und auch lyrische Episoden und Einfälle aufgelockert, ist von geradezu mitreißender Wirkung. Die virtuosen Lichter des beglückenden Finales erzeugen den Ein druck eines bunten Wirbels. Mit energischen Akkorden verklingt das Werk. Peter Tschaikowski, der große russische Meister, schrieb wie Beethoven und Brahms lediglich ein Violinkonzert, das allerdings wie deren Werke gleichfalls zu den Glanzstücken der internationalen romantischen Konzertliteratur gehört. Das in Ausdruck und Stil charakteristische, eigenwüchsige Werk, in D-Dur stehend, wurde als op. 35 Anfang März 1870 in Clärens am Genfer See begonnen und