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ZUR EINFÜHRUN G »Neue Bahnen« Johannes Brahms (1833—1897) hatte das Glück, daß ihn 1853 Robert Schumann entdeckte und in einem berühmt gewordenen Aufsatz „Neue Bahnen“ auf ihn hinwies als den kommenden Meister. Diese prophetischen Worte Schumanns, die, als eine Seltenheit unter Prophezeiungen, auch zutrafen, wurden dem bescheidenen und zurückhaltenden Brahms zu einer schweren Last — nicht nur, daß sie ihm Neider und Feinde schufen, sondern daß sie ihm auch die Verpflichtung aufbürdeten, ihren prophetischen Sinn zu erfüllen. Der schwerblütige Brahms hat unter diesen Worten Schumanns gelitten. Er war ge zwungen, Großes zu schaffen, weil die Welt nach dieser Ankündigung seines Genies Großes von ihm erwartete. Großes konnte ein Komponist damals nur durch die Beherrschung der Sinfonieform bekunden — und so sehen wir im Jahre nach dem Erscheinen des Schumannschen Artikels (1854) Brahms über der Arbeit an einer Sinfonie. Großes schaffen zu müssen heißt nun auch, sich mit dem größten Sin foniker, mit Beethoven, zu vergleichen. Und da spürt Brahms, der Selbstkritische, seinem eigenen Talente Mißtrauende, daß er an die Gipfelleistungen Beethovens, an die er anzuknüpfen verpflichtet ist, in diesem Alter noch nicht herankommt. Er überarbeitet das schon in mehreren Sätzen fertige Werk, er instrumentiert es um, er verändert es und gibt ihm eine andere Gestalt, so daß nach mehrjähriger Arbeit ein Werk entsteht, das Klavierkonzert in d-moll, op. 15, das nun ein Zwitter geworden ist, ein Mittel ding zwischen Sinfonie und Konzert. 1859 wurde die Uraufführung im Gewandhause zu Leipzig zu entfern Mißerfolg, der Brahms schwer trifft, so daß er erst nach Jahren wieder an die Arbeit sowohl für eine Sinfonie als auch für ein Klavierkonzert heranging. Brahms zog aus dieser Ablehnung seines Werkes durch das Leipziger Publikum die Erkenntnis, daß es ihm noch an Erfahrung fehle, die ihn zu einer Sinfonie befähige, mit der er in die Fußtapfen Beethovens treten könne. Vielleicht lag der Mißerfolg auch an der düsteren Schwere des ersten Satzes, den er unter dem erschütternden Eindruck des Schick sals seines Freundes und Gönners Robert Schumann geschrieben hatte. Vielleicht lehnte das Publikum dieses Werk auch deshalb ab, weil es sich über die übliche und schematische formale Anlage hinweg setzt. Die „neuen Bahnen“, die Brahms zu beschreiten wagte, erwiesen sich für die Hörer als nicht gangbar. Brahms schrieb für sefne Zeit „neue Musik“ und erlebte schon damals das Schicksal der schockierten Ablehnung, das neue Musik bis heute verfolgt. Heute verstehen wir die Ablehnung nicht mehr — weder der hymnische zweite Satz, noch das männliche, kräftig zupackende Schlußrondo können in uns ein Gefühl des Unbefriedigtseins erwecken. Im Gegenteil! Wir erkennen aus ihnen, daß Brahms herrliche und schöne Wege gefunden hatte, als er sich nach „Neuen Bahnen“ umschaute. Die Erfahrungen, die Brahms durch den Mißerfolg der Aufführung seines op. 15 gewinnt, gebieten ihm, systematisch vorzugehen und sich die Praxis der Orchesterbehandlung zu erarbeiten. Diesem Zwecke dienen die beiden Serenaden für Orchester (op.n in D-dur, op. 16 für kleines Orchester in A-dur). Beide sind Studien werke, allerdings Studien eines Meisters. Im op. 11 musiziert Brahms ganz im Sinne des 18. Jahrhunderts das Werk ist für die ihm eigentümliche Tonsprache noch nicht charakte ristisch. Eigenartiger ist die 2. Serenade, die den dunklen, grüblerischen Ton, der für Brahms kenn zeichnend wird, schon anschlägt. Sie kommt ohne Geigen aus, und die tiefen Register des Orchesters lassen die Heiterkeit und Plauderlust der Serenade vermissen, die sonst ihr Wesen ausmachen. „Neue Bahnen“ beschritt Brahms in seinem Klavierkonzert, während er sich in seinen Serenaden für diesen beschwerlichen Weg rüstete. 90 Jahre nach dem Entstehen dieser Werke entstehen sie noch immer. Inzwischen sind sie in den geistigen Besitz der musikalisch interessierten Welt eingegangen, die heute kaum mehr verstehen will, daß vor rund 100 Jahren diese Werke zum Teil umstritten waren. Johannes Paul Thilman 2. Abend im Brahms-Zyklus am Sonntag, dem 20. Oktober 1949, 19.00 Uhr, Martinskirche, Dresden - Neustadt. ..Ein deutsches Requiem“, op. 45. Leitung: Prof. Mauersberger. Solisten: Elfriede Weidlich, Hans Löbel.