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Ludwig van Beethoven Gedanken zum Beethonen- Tag Beethoven — der Unabhängigste von allen, der Welt in kühnem Trotz der Selbstbehauptung zugewendet, den inneren Zwiespalt eines elemen taren, wilden Urmensdientums und eines sehe rischen Gottesgeschöpfes durch Gestaltung über überwindend! Der Prometheus der Musik, der ihr die Flamme des Ueberirdischen herunterholt! Das Geheimnis der Welt tönte aus seiner Musik zum ersten Male. — Mozarts Schaff en istTanz der Götter; die haydnsche Musik der Reigen kräf tiger heiterer Menschen; die von Bach das wal lende Gesetz, nach dem die Sterne kreisen und die Blätter fallen. In den Klängen des Thomas kantors weht manchmal als Ahnung, was bei Beethoven Erfüllung wird: die Stimme des Schicksals wird laut, die tragische Erhabenheit der am Leben leidenden zerrissenen Seele. Zum ersten Male: Musik als Ethos — nicht nur Musik als Wohllaut. Mozart ist die Vollkommen heit, Beethoven holt aus der Unvollkommenheit, aus dem Ungleichmaß, aus dem Ringen die ver bindende Macht seiner großartigsten Kraft, im Bändigen cles inneren Widerspruches die lösende Harmonie. Sein Weg — nicht in bedächtiger Schnelle, sondern im Sturme brandender Sehn sucht, in feurigem Liebesüberschwang und in heftiger, fast verbissener Ungeduld des Höhen fluges: von Welt — durch die Hölle — zum Himmel. Wir feiern jetzt den Beet honen-Tag — den 100. Todestag des Musiktitanen! — Aber feiern wir denn nicht Beethoven seit bald 100 Jahren? Vergeht ein Winter, in dem nicht alle oder doch ein großer Teil seiner Sinfonien und Quartette, seiner Sonaten und Konzerte immer wieder und wieder zu Gehör gebracht werden? Man sollte ihn aber feiern, indem man Beet hoven-Auf führungen wirklich zu Festen macht, nicht zu flüchtig vorbereiteten Aufführungen ohne innere Spannung und Andacht, nicht zum Geschäft und Betrieb entwürdigt — den Blitz zum Herdfeuer für Alltagsspeisen mißbraucht. Nichts Abscheulicheres ist denkbar, wie Beet- hovensche Musik als Massenartikel. Man sollte ihn feiern, indem man verhindert, daß sich Wert losigkeit an ihm vergreift, daß Mittelmäßigkeit — ohne Weihe, ohne das Gefühl, das Höchste zu verkünden, ohne wahres Berufensein — die gewaltigste Botschaft der Menschheit zur Modeangelegenheit macht (mir „feierten” in Chemnitz leider oft genug Beethoven in dieser Form). Lieber nur eines der unsterb lichen Werke in Vollendung, als ein ganzer Zyk lus in dumpfer Passivität. Es gilt, die heilige Fackel — und sei es auch nur durch wenige oder ein einziges Werk — hochzuhalten, daß sie von den Bergen der Ferne herüberleuchte in die Schluchten unserer Zerrissenheit und Not, daß wir Beethoven höre n. Die Schönheit der Mu sik, ihr Rührendes, ihr Zartes war schon vor Beethoven da. Die S ittlichk eit der Musik und ihr Erschütterndes ist erst mit ihm geboren worden — mit Beethoven, dem Unabhängigsten von allen. * Beethovens „Neunte“ Kein Werk der Kunst — soweit man auch umherschauen mag in ihrem weiten, unermeß lichen Gebiete — vermag uns über unseren Menschenwert und die in uns liegende, nach Ent faltung drängende Kraft so zu belehren, wie jenes erhabene Werk des großen Deutschen, das er für sein Volk träumte und dichtete: die neunte Sinfonie. Wenn man audi zugeben muß, daß in den letzten Jahren eine der Wirkungs kraft und Größe des Werkes wenig zuträgliche Ausbeutungs- und Abnutzungstaktik getrieben morden ist und liier eigentlich durch seltenere Aufführungen die Stellung eines Ausnahme werkes (ähnlich wie bei Wagners „Parsifal”) ge wahrt bleiben sollte, so ist die „Neunte” sicher am Platze bei einer Beethoven-G edenkf eie r zu Ehren des Namens des Unsterblichen. Wir wissen auch, daß Ridiard Wagner kein anderes Werk für würdig hielt, sein Bayreuther Haus einzuweihen, als clie neunte Sinfonie. Die Grundbedingung für das richtige Ver ständnis des Wunderwerkes liegt in der Ausschal tung der laienhaften Annahme: Beethoven habe von vornherein den Plan des ganzen Werkes gewußt. Wenn Beethoven irgendwo als freier, phantastischer Improvisator auftritt, so ist dies hier der Fall. Er ruft sein Orchester zusammen; noch einmal soll aus dem Elemente des Schalles eine Welt beseelter Wesen hervor gehen, die das ewige Klagelied vom Leid der Welt, von der Un erbittlichkeit des Schicksals (der griechischen Moira) singen. Es würde zu weit gehen, hier im einzelnen auf die Entwicklung der motivischen Gedanken einzugehen. Nur so viel, daß sich die drei Hauptmotive (das Motiv des Chaos, der Beschwörung und des Schicksals) aus den aller einfachsten Elementen entwickeln, und zwar in einer so unfaßbaren Naivität und darum von einer so unerhörten Kunst, daß ihnen in der gan zen Musikliteratur kaum etwas auch nur an nähernd Aehnlidies zur Seite gestellt werden kann. Sie stellen die Quadern des Baues von so gewaltigen Maßen dar, wie er sich in den ersten drei Sätzen auftürmt. Der erste Satz trägt ganz das Gepräge der Unerbittlichkeit: ein freudloses Ringen, aus dem noch kein Strahl wärmerer, menschlicher Ge fühle, noch kein Ton der großen weltumspannen den Beethovenschen Menschenliebe gefallen ist. Ehern im Ausdruck, hart in der Koloristik ist dieser Satz eine gewaltige epische Schilderung des tragischen Lebenskampfes Beethovens. In den beiden Mittelsätzen folgt eine mehl- lyrische Schilderung des Zustandes völliger Re signation, die sich zum Teil in übermütigem Hin wegsetzen über alles Unglück (Sdierzo), zum Teil in immer mehr wachsendem Hange zum Versin ken in selige Erinnerungen aus besseren Tagen (Adagio und Andante) äußert.