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Flämische Kultur und Sprache. Von Fritz Köhler. Wenig Völler Europas hatten bisher einen gleich hartnäckigen Kampf um ihre Eigenart und vor allem um ihre Sprache zu führen, wie die Flamen, bis ihnen nach dieser Richtung hin im Verlaufe des gegenwärtigen Weltkrieges durch die Deutschen Recht widerfuhr. Dies dokumentiert sich in erster Linie durch die Errichtung einer flämischen Hochschule in Gent durch die Deutschen. Das Flämische'wird in Belgien von vier Millionen Einwoh nern gesprochen, es gehört mit dem Holländischen, Schwe dischen, Dänischen, Norwegischen und Englischen zur nie derdeutschen Sprachgruppe und ist unserem Plattdeutsch nicht unähnlich. Die Flamen stammen von den Franken ab, die im vierten Jahrhundert nach Christi in Belgien «nd Holland eindrangen, und setzten sich im Norden des heutigen Belgien fest, während im Südeü die romani- sierten Kelten seßhaft wurden, die später di^ Bezeichnung Wallonen, d. i. Welsche, erhielten, und deren Sprache eine Abart des Französischen wurde. Im Mittelalter küm merte man sich wenig um Volks- und Sprachgrenzen und keines der beiden Völker trachtete danach, die Rechte des anderen streitig zu machen. Erst als das Land nach dem Tode Karls des Großen geteilt wurde und zum Teil an Frankreich, zum andern Teil an (das deutsche) Lothrin gen fiel, setzten die Kämpfe um das Vorrecht der Kultur und der Sprache ein. Gegen die Wende des elften und zwölften Jahrhun derts begann die Blütezeit der flämischen Literatur. Der Lehrmeister Wolfram von Eschenbachs, Heinrich von Vel dele, aus der Gegend von Maastricht (im heutigen Hol land) und Verfasser einer Aneide, wurde zum gemeinsa men Stammvater der deutschen und flämischen Literatur und zum Begründer des höfischen Epos. Um 1250 schon schrieb Willems sein bekanntes großes Gedicht „van den Vos Reingerde" (vom Fuchs Reinhard) und mehrere an dere. Er übertraf die französischen Vorlagen bei wei tem und sand viele Nachahmer, die es ihm aber nicht gleichzutun vermochten. Um diese Zeit auch nahmen befreundeten Holland auswanderten, wo sie gastliche Auf schwung. Unter Kaiser Karl dem Fünften, der auch über Bel gien gebot, brach die Reformation aus, und diese Umwäl zung verfehlte nicht, in geistiger Beziehung einen gewis sen Einfluß auch auf dieses Land auszuüben. Ter Sü den und der Osten blieben katholisch, während der Norden (und mit ihm Hofland) und der Westen sich zu der neuen Lehre bekannten. Deren Einwohner wurden ständig drangsaliert und waren vielen Verfolgungen ausgesetzt, so daß sie zum größten Teil nach dem benachbarten und beferundeten Holland auswanderten, wo sie gastliche Auf nahme fanden. Damit war es mit der Blütezeit Belgiens vorbei. Die ersten nachdrücklichen Unterdrückungsversuche flä mischen Wesens und der flämischen Sprache fielen in die Zeit, da Belgien zum erstenmale unter französifcher Herr schaft war, in den Jahren der großen französischen Revo lution Trotzdem diese Herrschaft nur einige Jahre währte, wurden die Französierungsversuche mit größtem Nachdruck betrieben. Die flämische Sprache als Umgangs sprache und die flämischen Zeitungen wurden verboten und die Ortsnahmen vieler flämischer Städte erhielten französische Namen. Die Flamen ließen dies alles gelas sen über sich ergehen, zum Teil deshalb, weil die echten Anhänger flandrischen Wesens nach Holland aus-van- derten und die Zurückgebliebenen Sympathien sür Frank reich hegten, das mit der Einsührung der neuen Repu blik auch den Belgiern und Flamen alles Gute und ' Schöne versprochen hatte. Im Jahre 1815 kam Belgien an Holland und man glaubte an einen Sieg des germa nischen Elements. Es tauchten überall flämische Zritun- g.m auf, in der Amtssprache erhielt das Flämische seinen Ehrenplatz neben dem Französischen und zahlreiche Dör fer und Städte beeilten sich, sich wieder niederdeutsche Na men zuzulegen. Es konnte und wollte aber nicht gelin gen, den sinnlich-frohen katholischen Süden und Osten mit dem einfacheren und nüchternen Norden und Westen har monisch zu verbinden. Auch der wirtschaftliche Gegen satz, im Süden Industrie, im Norden Ackerbau und Vieh zucht, sowie Handel und Verkehr, begann sich immer mehr zuzuspitzen. Zum größten Teil schuld daran wa ren die unausgesetzten Bemühungen Frankreichs, Belgien zu annektieren, womit, wenn dies gelungen wäre, die flä mische Kultur, Eigenart, Sitte und Sprache bald vom Erdboden verschwunden gewesen wären. Da brach im Jahre 1830 die Julirevolution in Paris aus, dehnte sich auch aus die Nachbarlande aus und in deren Versolg siel Belgien von Holland ab und wurde ein selbständiges Kö nigreich. Zu Ende des Jahres 1910 wurde in Belgien eine Volkszählung veranstaltet, und es ergab sich, daß von den 7 089 591 Einwohnern 54 Prozent flämisch, 45 Pro zent französisch resp. wallonisch und 1 Prozent hochdeutsch sprachen. Das Hochdeutsche wird im Südosten des Lan des, an der luxemburgischen Grenze, in der Gegend der Stadt Arlon, gesprochen. Man nimmt an, daß zu frü heren Zeiten, und noch besonders um die Mitte des ver gangenen Jahrhunderts, das Flämische als Umgangs sprache in Belgien das Französische an Ausdehnung bei weitem übertrofsen hat. Da aber Belgien mit Hilke von Frankreich sich von Hofland losriß, und weil man glaubte, daß, wenn man das Flämische bcibchielt, die Liebs zu Holland eine allzugroße bleiben würde, wurde die fran zösische Sprache als Amtssprache eingesührt. Dir Fla men, die nun einsahen, daß sie übervorteilt waren, woll ten es durchsetzen, daß ihre Sprache wenigstens als Ge richtssprache beibehalten würde. Sie konnten aber mit diesem Verlangen nicht durchdringen. Ebenso wurden sie in nur sehr beschränkter Anzahl zu den Regierungs stellen zugelassen, im Höchstfälle etwa 20 Prozent. Auf diese Weise versuchten die belgischen Französlinge, ihre flämischen Landsleute zum Erlernen der französischen Sprache zu zwingen. Damit die ersteren noch mehr Macht im Lande hätten, riesen sie die belgische Industrie ins Leben, die nur im kohlenreichen Süden des Landes ge deihen konnte, während der Norden und Westen immer nur aus die Landwirtschaft und Schiffahrt angewiesen waren. Mit der durch das Jahr 1830 erhofften Freiheit der Flamen war es nichts. Ihre Sprache wurde nur in den Volksschulen geduldet, in den höheren Scimlen mußte französisch gesprochen werden. So waren die intellektuel len Kreise der Flamen gezwungen, sich der sranzösflchen Sprache auszuliefern. Die neuere flämische Literatur läßt sich bis auf das Jahr 1840 zurückvcrsolgeu. Wieder war es einer mit Namen Willems, Jan Frans Willems, der als Begrün der anzusprechen ist. Für die Literatur selbst tat er we niger, als für die Rechte seiner engeren Landsleute, ihre Muttersprache gewabri zu wissen. Doch gelang es ihm auch, einen Fonds zusammenzubringen, aus dem flä mische Gelebrte, Künstler und Schriftsteller unterstützt wurden, nm ibre Bemühungen für die Verbreitung der flämischen Sprache und Kultur zu belohnen. Als Haupt- Vertreter für die ucuflämische Literatur gelten Guido Gezelle, Cyriel Buysse und Stijn Steuvels, deren Werke zum Teil auch ins Deutsche übertragen worden sind. In den letzten Jahren vor dem Krieg war die Erbit terung der Flamen gegen das übrige Vaterland und des sen Regierung besonders groß, und man war im besten Zuge, eine Art Homerule von der belgischen Regierung zu verlangen, ähnlich der, wie sie die Arländcr oon Eng land verlangt und zum Teil bewilligt erhielten. Auch sozialdernolratische Strömungen, die von den Wallonen ausgingen, fanden in Flandern fruchtbaren Boden. Im merhin hatten die Flamen in den letzten Jahren der bel gischen Negierung einige Zugeständnisse abgcrungcn. So kamen Briefmarken und Münzen in den beiden Landes sprachen in den Verkehr und auch alle Gesetze und Ver ordnungen wurden seit nahezu 20 Jahren in französischer und flämischer Sprache veröffentlicht.