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Seine kleine Cousine. Von Michel Trivel eh. (Nachdruck verboten.) „Tu brauchst Jeans Besteck nicht aufzulegen," sagte Madame Cladot zu Alice, „dein Vetter wird heute nicht zum Abendessen nach Hause kommen." „Gut, liebe Tante," versetzte das junge Mädchen mit ruhiger Miene und fügte dann leise für sich Hinzu: „Was mag denn vorgehen?" Alice deckle schnell, und während sie Teller und Gläser brachte, liest sie ihrer Phantasie freien Lauf. „Was kann denn Jean nur außerhalb zu tun Haben? Mit wem ist er zusammen? Und warum sieht die Tante so zufrieden aus?" Madame Clodat setzte sich in ihren Lehnstuhl, während Alice am anderen Ende des Tisches Platz »ahm. Als man das Huhn brachte und das junge Mädchen sich nur ein kleines Stück auslegte, bemerkte Madame Clodat: „Warum nimmst du denn nicht von dem Flügel?" „Ich danke, liebe Tante, mir schmeckt ein Stück ge nau wie das andere. Und da Jean kaltes Huhn so gerne ißt, so kann er morgen zum Frühstück . . „Es ist sehr nett von dir, daß du an deinen Detter denkst —" „Tas ist doch ganz natürlich, liebe Tante." „Tu hast ihn sehr gern, wie?" „Ebenso wie Sie, liebe Tante. Ich wäre sehr un dankbar, wenn es anders wäre. Sie haben mich als arme Waise zu sich genommen " „Ich habe nur meine Pflicht g?tan. Ich konnte doch die kleine Tochler meines Bruders nicht auf der Straße lassen!" „O, Sie sind sehr gütig gewesen, liebe Tante!" „Toch sprechen wir nicht mehr davon. Wenn ich übrigens etwas Gutes getan habe, so bin ich dafür belohnt, denn du machst dich im Hause sehr nützlich. Tu bist mir wie eine gute Tochter. Und seit den zwei Jahren, da du bei uns bist, habe ich dich lieben und schätzen gelernt. Tu hast große Vorzüge, bist fleißig und verständig. Und du wirst auch nach Jeans Abreise —" „Er bleibt nicht bei uns?" „Nun, du bildest dir doch Wohl nicht ein, daß er sein ganzes Leben lang Junggeselle bleiben wird?" „Er will sich verheiraten?" — Leise seufzend fügte sie hinzu: „Ich wußte ja, daß es so kommen würde!" Tann fragte sie nach einer Pause: „Ist das bald?" „Ja, hoffentlich bald," versetzte Madame Clodat mit freudiger Miene. Tann ließ sie den etwas hochfahrenden Ton fal len, den sie ihrer Nichte gegenüber gewöhnlich an schlug, und sagte: „Schließlich sehe ich keinen Grund, warum ich dir gegenüber dies länger als Geheimnis betrachten soll: erfahre also, daß mit Jean etwas ün Gange ist!" ,FH!" „Ja, mit Fräulein Henriette Tubris, die du ja kennst. Eine brillante Partie: 60 000 Francs Mit gift, von der Erbschaft gar nicht zu reden. — In diesem Augenblick findet die entscheidende Begegnung statt, Jean speist heute bei der Familie Tubris. Wenn alles gut geht, was ich hoffe, wird er sich noch heute erklären. — Aber was hast du denn? — Tu ißt ja nicht!" „Toch, liebe Tante, doch!" „Tu kannst dir denken, wie zufrieden ich bin!" „Gewiß, liebe Tante, gewiß!" „Aber du scheinst die Sache gar nicht vorzüglich -u finden?" „Toch, liebe Tante, doch!" Tann fuhr Madame Clodat fort: „Schon seit lan ger Zeit wollte ich Jean verheiraten. Aber das war nicht so leicht. — Wen sollte ich aussuchen? Tu machst ein erstauntes Gesicht — ,du kennst also ein junges Mädchen, das er hätte heiraten können?" „Nicht doch, liebe Tante, nicht doch!" „Toch nicht etwa die kleine Durans? Oder die kleine Legros, die so schlecht erzogen ist? Oder Fräu lein Ledoux?" „Nein, nein." „Na ,also! Tu mußt doch anerkennen, daß ich recht habe, nicht wahr?" „Gewiß, liebe Tante, gewiß!" Alice hatte sich, während sie eine Orange zer legte, in den Finger geschnitten. „Oh, du bist ungeschickt! Tas blutet ja entsetz lich!" „Es hat nichts zu sagen, liebe Tante, gar nichts ich werde mir die Hand in kaltem Wasser kühlen." Mit diesen Worten verließ Alice schnell das Eß zimmer. * * * Tie Hand im Wasser, stand das junge Mädchen da und dachte nach. Also Jean sollte sich verheiraten. Seit den zwei Jahren, die sie im Hause der Tante war und für ihn sorgte und schaffte, hatte er nichts gesehen, nichts erraten! „Nun, geht's besser?" fragte Madame Clodat, als Alice noch immer nicht zurückkam. „Ja, liebe Tante; es ist gut. Noch ein bißchen Heftpflaster, und es ist nichts mehr zu sehen." In der Tat war der kleine Verband in einer Minute gemacht, und Mice eilte wieder nach dem Eßzimmer. Tie beiden Damen saßen wie gewöhnlich ym Tisch> mit einer Handarbeit beschäftigt. Es herrschte eine Weile Schweigen, das Madam« Clodat zuerst brach. „Uebrigens, liebe Alice, ich habe dir etwas zu sageb." „Was denn, liebe Tante?" „Wegen deines Verhaltens, das du Jean gegen über nach seiner Verheiratung annehmen mußt. Ich habe dir bis jetzt nichts gesagt, denn ich hielt die Sache für unwichtig, da du ja noch ein Kind warst. — Toch jetzt gehst du in dein zwanzigstes Jahr, und da ist eine größere Zurückhaltung erforderlich." Alice riß erstaunt die Augen auf. „Ja wohl — du dutztest bisher deinen Vetter; mich -einert es ja nicht, aber es kann seiner Braut doch unangenehm sein." „Ich werde Jean nicht mehr dutzen, liebe Tante." „Tu redest auch zu viel mit ihm. Du fragst ihn nach allem Möglichen. Manchmal streitest du dich sogar mit ihm herum. Allerdings antwortet er dir mit der größten Zuvorkommenheit — und ich gestehe dir sogar, daß er sich im allgemeinen mcht bei deinem Geschwätz zu langweilen scheint. Aber das ist gleich, du mußt den Schein wahren. Ich möchte um kei nen Preis, daß Fräulein Henriette, wenn sie herkommt, finden würde, daß du im Hause meinem Sohne ge genüber eine Stellung einnimmst, die du in Wirklich keit nicht hast." „Schön, liebe Tante." „Und hüte dich namentlich, Fräulein Henriette als deinesgleichen zu behandeln. Wenn sie die Frau meines Sohnes wird, hat sie von deiner Seite Rück sichten zu beanspruchen." „Ja, liebe Tante." „Gut, liebe Tante! — Ja, liebe Tante! Du gibst deine Antworten mit einer Miene des Widerspruchs, liebe Alice, die durchaus nicht am Platze ist. Diese Heirat scheint dir zu mißfallen? Soll Jean dich etwa um deine Meinung fragen?" Obwohl die arme Alice sich vorgenommen hatte, ihren Kummer nicht zu zeigen, brach sie doch bei den letzten Worten ihrer Tante in Schluchzen aus. „So! Jetzt weinst du auch noch! Ach, diese kleine Gans!" Und als die Tränen nicht aufhörten, fuhr st« fort: „Tas Fräulein ist heute abend nervös, wie es scheint — ganz wie ein reiches junges Mädchen! — Na, wie du willst, meine Kleine, wie du willst! — Es ist zehn Uhr, ich gehe zu Bett! Wenn du dich be ruhigt hast, kannst du es ebenso machen. — And wenn