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Nr. 201 SWS Donnerstag den 3V. August UN7 abends 83. Jahrgang Milian. Roman von Marie Lenzen-Sebregond. (28. gortsetzung.) 18. Kapitel. „Du magst mich nun begleiten oder nicht; ich gehe nach Tennenborn!" rief Marie Antoinette — der Trief ihrer Schwester lag vor ihr auf dem Tische. „Milian ist an allem schuld, und die vertrocknete Claudia taugt noch weniger als er. Es ist die höchste Zeit, daß ihnen die Köpfe gewaschen werden." „Aber, Mariechen!" „Ist eS nicht etwa wahr? — Clarisse ist freilich, dem Himmel sei Dank, glücklich; sie hätte es jedoch auf ^anz ander» Art werden können, und datz das nicht geschehen ist, verschulden die Tennenborner." „Ich gebe das zu; allein —" „Wenn du das zugibst, mußt du auch gestehen, datz Elarisse eigentlich keinen Vorwurf trifft, das arme, verlas sene, mutterlose Kind. O, meine Schwester, meine einzige Schwester! Doch mein Gefühl kommt erst in zweiter Li nie; zuerst muß ich nach Tennenborn, um dort meine Pflicht zu tun." „Aber worin besteht denn diese Pflicht?" „Muß ich nicht Milian zur Vernunft bringen? — nicht der hinterlistigen Claudia ihren Standpunkt klar ma chen? Muß ich nicht darauf dringen, daß man Clarissen ihr mütterliches Erbe ausfolgt, welches man ihr unter keinen Umständen streitig machen kann?" „Das scheint mir aber doch am allerwenigsten deine Aufgabe zu sein." „Nicht die meinige? — Aber um des Himmels wil len, mein guter Emmerich, wessen Aufgabe ist es denn? — Man kann doch Clarissen, einem jungen Mädchen, nicht zu mute«, daß sie selbst und allein ihre Rechte gegen ihren' Vormund geltend macht, der sie so nichtswürdig behandelt bat; und da unsere Eltern nicht mehr leben, muß doch ich, ihre ältere, verheiratete Schwester, für sie elntreten." „So würde die Sache liegen, meine Liebe, wenn Cla risse sich nicht deinem Schutze entzogen hätte, um sich einen andern Beschützer zu wählen, dem wir sie nur gezwun genermaßen und höchst ungern überlassen haben." „Ich gestehe das zu. Allein ich glaube ihr jedes Wort, und sie beteuert, daß sie nur deshalb die Gastfreund schaft der Frau zur Sprenge angenommen hat, weil die Gräfin Gunstorff krank lag und wir im Auslande waren. So trägt auch unsere Reise einen Teil der Schuld an allen diesen fatalen Vorkommnissen." „Ich will das nicht in Abrede stellen und bedauere eS lebhaft. Davon aber kann ich nicht abgehen: sie hat die sen hübschen jungen Fabrikherrn zn ihrem Beschützer er hoben und sich um seinetwillen beziehungsweise von uns losgesagt; an ihm ist eS also jetzt, für ihre Interessen einzutreten." „Er wird sonst alles^für sie tun, was in seinen Kräf ten steht; ich bezweifle das nicht im geringsten, denn er hat sie sehr lieb. In dem vorliegendem Falle aber wird er keinen Finger rühren, und sollte Clarisse darüber auch ihre sämtlichen Güter verlieren. So bescheiden r auf oer einen Seite auftritt, so stolz ist er in anderer Beziehung; er wird darauf halten, uns zu beweisen, daß das Permö-. gen der Komtesse Stammegk ihm reine Nebensache <" „Nun, wenn er seinen Stolz so teuer bezahlen will, so ist daS seine Sacke." „Aber nicht die unsere, die Zahlung anzunchmen, roch auch zu gestatten, daß Milian und seine geizige Frau sie einstecken. Und um das zu verhindern, sollst du nich nach Tennenborn begleiten. Wenn diese traurige Hürat mich au<' von meiner armen, lieben Schwester trennt" — die warmfühlende Frau brach in schmerzliche Träne« aus — „so will ich doch nicht, daß sie arm in das Haus Ihres bür gerlichen Gemahls tritt. Zwar glaube ich fest, datz er sie ! das nimmer entgelten lassen würde — ich halte ihn kür ! durchaus ehrenhaft und edel; Clarisse aber müßte eine völlige Abhängigkeit von ihm doch bitter empfinden. Und ich gestehe dir, trotz meines Zornes über ihre Verbindung, würde es auch meinen Stolz schwer verletzen, wenn er sie ohne alle Mittel zur Frau nehmen müßte." „Du hast mich überzeugt, Mariechen," sagte er Graf, seine Hand liebevoll auf ihre Schulter legend. .Du hast ein braves Herz und einen klaren Kopf, und so will ich ihnen einmal folgen, wenn ich auch fürchte, daß sie dich ! und mich Wetter führen werden, als du jetzt beabsichtigst. Aber sei's drum; ich will dich nach Tennenborn begleiten und dich in deinem schwesterlichen Werke nach Kräften un terstützen." Marie Antoinette beantwortete die Zusage ihres Ge mahls mit einem herzlichen Dankesworte, und die Abreise nach MilianS Residenz wurde auf den dritten Trag anbe raumt. -n In Tennenborn waren die Zustände inzwischen un leidlich geworden. Graf Sinsfeld hatte mit seiner Ge- mahlin und seinem Sohne das friedlose Helm seiner Toch ter, an welches ihn die Hoffnung auf das Gelingen des von Claudia angeregten gewissenlosen Planes nicht, länger fesselte, wieder verlassen, um in Stapphorst die Hauungs pläne seiner Förster, die Preise seiner Kohlenmeiler und den Verding der neuen Holzpflanzungen z« begutachten. Seine Frau nahm mit ziemlichem Gleichmut, wenn auch ! nicht jeder Sorge bar, den geselligen Verkehr sn ihrer näch- i sten Umgebung wieder auf, um jedem austauchenden uu- ! liebsamen Gerüchte nach Kräften entgegenzuwirken. Clau- > dia sah sich also allein der schwierigen Aufgabe gegenüber, die über das Maß zornmütige Stimmung ihres Gemahls ! zu ertragen, da jeder Versuch, sie zu bekämpfen, einen " us- bruch rasender Wut zur Folge hatte. Der Schluß ^ineS solchen Ausbrnches brachte jedesmal einen Zustand der Er- ! schlaffung hervor, an welche sich stundenlange stumpfe Gleichgültigkeit gegen alles und jedes zu reihen pflegte. Diese Zeiten vergleichsweiser Ruhe waren für das ! Gefühl der Gräfin die unheimlichsten, denn sie erinnerten > sie an eine Zeit sogenannter Genesung, welche bei ihren, ! Bruder der schrecklichey Krankheit gefolgt war, aus wel- i cher der damals Fünfzehnjährige, zwar nie Begabte, als ein Blödsinniger hervorgegangen war. Gerade so stumpf und vernunftlos hatte Philipp nach den schrecklichen Krampfanfällen vor sich hingestiert, die jeder Kunst der , Aerzte zu spotten schienen, wie Milian jetzt, nach den sich z täglich öfter wiederholenden Ausbrüchen seiner sinnlosen ! Wut, es tat. Dann fragte sich seine sonst so kaltblütige Gemahlin i zuweilen mit nervöser Furcht, ob das wohl der Anfang i einer Gemütskrankhettz sei, wie er sie seiner Schwester an- gedichtet hatte? Dann drängte sich ihr mit einem fast aber gläubischen Schauder der Gedanke auf, ob das nicht ein Gottesgericht sei, und ob vielleicht auch sie dazu beigetra gen habe, es Herabzuruf«,, durch ihr Bemühen, ihre schutz lose Schwägerin, trotz deren verzweifelten Widerstandes.