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Kleptomanie. Erzählung von Friedrich Thieme. , Ich sah mit meinem Freunde, dem Rechtsanwalt Drl Kurt Schmelzer, in einer Weinstube der Friedrich straße. Wir hatten bereits zwei Flaschen Johannis berger geleert, und mein Freund klopfte ungeduldig an sein Glas, den Kellner von neuem herbeizurufen. „Tu," sagte ich mahnend, „es ist die dritte." „Macht nichts," rief er aufgeräumt, „heut wollen wir lustig sein. Ich zahle die Zeche." „Dir scheint etwas recht Angenehmes widerfahren zu sein?" Er war schon während des ganzen Abends in sehr gehobener Stimmung gewesen. „'s ist auch an dem. Dir kann ich es ja ver raten, Max, — ich habe mich heute verlobt." „Du? Verlobt?" w „Zunächst im stillen. Und weißt du, mit wem?" „Nun?" fragte ich gespannt. „Mit der Baronesse Irma von Bettau — du kennst sie doch?" ,L> gewiß —" „Sie ist ein Engel an Schönheit und Liebens würdigkeit. Ich schwebe in den Gefilden der Seligen. Aber du wünschst mir ja nicht Glück?" „Doch, Kurt, doch — von ganzem Herzen!" Ich reichte ihm die Hand über den Tisch hinüber, aber, offengestanden, mit einem mühsam verhehlten Gefühl des Schreckens. Kurt hatte recht: Irma von Dettau war ein Engel an Schönheit und Liebenswür digkeit, aber — es war ein böses „Aber" vorhanden, von dem mein Freund, von dem sonst niemand eine Ahnung hegte. Drei Jahre vorher hatte der Vater -Irmas meine ärztliche Kunst für seine damals sech zehnjährige Tochter in Anspruch genommen. Der Baron kam zu mir, um mir unter dem Ausdruck größter Be stürzung anzuvertrauen, daß seine Tochter klepto- Manisch veranlagt sei, d. h. eine krankhafte Neigung für fremdes Eigentum an den Tag lege. Sie hatte bei Gelegenheit von Einkäufen in einem vornehmen Goldwarenladen zu wiederholten Malen Schmuckgegen stände heimlich an sich genommen, denen sie dann daheim gar keine weitere Beachtung geschenkt, da sie weit wertvolleren, prächtigeren Schmuck besaß. Der Goldschmied war, nachdem er sich von der seltsamen Tatsache überzeugt, zu dem Vater gekommen, der sich erst im höchsten Grade aufgebracht zeigte, durch das Geständnis des eigenen Kindes aber bald überzeugt wurde. Irma war außer sich vor Scham und Reue und erkrankte schwer infolge der Aufregung. Ich stellte sie bald wieder her, von der krankhaften Sucht ver mochte ich sie jedoch nicht zu befreien. „Arzneimittel richten gegen derartige krankhafte Triebe nichts aus," mußte ich dem schwergebeugten Kater bekennen. „Vielleicht handelt es sich, da Ihr Fräulein Tochter früher nie Anlaß zu entsprechenden Klagen gegeben hat, lediglich um eine Uebergangs- «rscheinung der Entwickelungszeit — hat ja doch, wie ich mich überzeugt, Fräulein Irma die sorgfältigste "Erziehung genossen und weist nicht die geringsten Absonderlichkeiten auf. Wir müssen beruhigend auf ähre Nerven wirken und ihre Widerstandskraft stärken." Das war vor drei Jahren gewesen. Seitdem hatte ich nichts mehr von der Sache gehört. Der Baron kam mir nicht wieder zu nahe, und Irma hatte nie erfahren, daß mir ihr Geheimnis anvertraut wor den war. Die Kenntnis dieser Umstände war es, die einen Glückwunsch nicht recht aufkommen lassen wollte. Mein Freund blickte mich betroffen an. „Es scheint, du bist nicht ganz einverstanden mit meiner Wahl?" „Der Baron ist nicht sehr vermögend," erwiderte ich ausweichend. „Ich heirate nicht sein Vermögen, sondern seine Tochter." In schwerer Seelenbedrängnis ging ich diesen Abend nach Hause. Was sollte ich tun? Das Amtsge heimnis verbot mir jede Mitteilung an den Freund; die Freundespflicht, die ebenso heilig ist, legte mir die Verpflichtung auf, ihn vor einem Unglück zu be wahren, dessen Folgen gar nicht zu übersehen waren. Sein ganzes Lebensglück stand vielleicht auf dem Spiele. Ich als Arzt kannte ja die ganze Getz^r, von der er bedroht war. Stundenlang wälzte rch mich grübelnd auf meinem Lager herum. Auch wäh rend der nächsten Tage kam ich zu keinem Entschluß. Aber etwas tun mußte ich, ich hätte mir zeitlebens Vorwürfe gemacht, wenn mein bester Freund durch meine Schuld ins Elend geraten wäre. Ich mußte ein Mittel finden, ihn zu warnen, ohne meiner Schweige pflicht untreu zu werden. So erzählte ich ihm ganz nebenbei, ein Schulfreund von mir gedenke sich mit einem Mädchen zu verheiraten, das an Kleptomanie leide. Sein Aussehen und seine Antwort überzeugten mich alsbald, daß er in bezug auf seine Braut voll kommen ahnungslos sei. „Um Gotteswillen!" rief er entsetzt, „er wird doch nicht so verblendet sein! Hast du ihm denn nicht mit geteilt, welchen schrecklichen Folgen er sich möglicher weise aussetzt?" „Noch nicht. Es ist schwer, da bestimmte Anhalts punkte zu geben. Der Schritt kann auch einmal gut ausgehen." „Immerhin, es ist deine Schuldigkeit als Arzt und Freund. Du weißt so gut wie ich, daß Kleptomanie ein unheilbares Uebel ist." „Aber er liebt feine Braut über alles —" „Das darf nicht allein bestimmend sein. Er muß sein Gewissen zu Rate ziehen. Man hat auch Pflichten gegen seine Nachkommen." Armer Kurt! Ich erkannte, daß es ihn unsägliL hart treffen würde, aber nun mußte ich Handelin Seine eigenen Worte legten mir die Notwendigkeit in die Seele. Es gab nur einen Weg. Ich begab mich zu dem Baron von Bettau. Sein Gesicht verdüsterte sich schon bei meinem Eintritt, und es ward noch finsterer, als ich ihm den Beweggrund meines Kommens mitteilte. Ich entschuldigte mich mit meiner Freundespflicht. Er entgegnete: „Ich weiß wohl, Sie dürfen nicht anders handeln. Was verlangen Sie von mir?" „Daß Sie meinen Freund von dem Vorgefallenen Kenntnis geben." „Mein Gott! Wenn er die Verlobung löst — — es würde der Tod meines armen Kindes sein!" „Ihr Fräulein Tochter wird selbst einsehen, daß der Schritt unvermeidlich ist." „Sie würde ihm nie wieder vor die Augen treten, wenn sie -wüßte, daß er von der unheilvollen Tat sache Kenntnis hat." Wir sprachen und überlegten lange. Er war ein Ehrenmann und begriff die Notwendigkeit so fortigen Handelns. „Mir selber erlassen Sie das Furcht bare," erklärte er endlich. „Tun Sie, was Sie fiir erforderlich erachten, ich entbinde Sie ausdrücklich von Ihrer Schweigepflicht." . Mehr hatte ich nicht gewollt. . . Es war eine schwere Stunde für mich, in der ich meinem unglück lichen Freunde die traurige Enthüllung machte. So schonend wie möglich — aber was heißt schonend in solchen Fällen? Die Stunde war schwer für mich, aber noch schwerer für ihn! Er saß vor mir, "das marmor blasse Gesicht mit den Händen bedeckt, seinen Schmerz mühsam zurückhaltend. „Ich verstehe dich und danke dir von Herzen," sagte er trotzdem. „Was willst du tun?" „Was bleibt mir für eine Wähl? Aber ich will nicht voreilig Handeln, um Irmas und meinetwillen! Ich will mich über den Fall und die Krankheit aufs genauste unterrichten." „Vergiß nicht, daß Irma —" „Sie soll nichts erfahren — vorläufig nicht. Wenn freilich — aber vielleicht kann ich einen andern Grund vorschützen, einen Grund, der in mir selbst liegt!"- Gott weiß, wie ich ihn bemitleidete! Er las alle! meine Aufzeichnungen über den Fall, er studierte ihn' in allen meinen medizinischen Werken. „Verzeih, aber