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Gudrun zu machen. Dora war eben aufgestanden und saß in einem Lehnstuhl am Fenster des Wohnzimmers. Sie war noch sehr bleich, aber der eigenartige Reiz ihrer Schön heit schien dadurch noch erhöht. Fräulein Anna hatte sich bald überzeugt, daß Dora nicht ernstlich krank sei, und gönnte sich nun ein gemäch liches Mittagsschläfchen, dessen sie unter den obwaltenden Umständen recht bedürftig war. Hatte sie doch in der letz-, ten Nacht sehr schlecht geschlafen. Sie hatte geträumt, Dora schwebe am Rande eines Abgrundes, und sie bemühte sich vergebens, die Nichte zu reiten. So hörte sie auch Olgas Klingeln nicht, hörte nicht die fremden Stimmen in ihrem stillen Hause. Als Dora Olga und ihren Bräutigam eintreten sah, sprang sie auf und eilte auf sie zu — uneingedenk ihrer wunden Füße — ' nd küßte sie zärtlich, als seien sie schon seit Jahren befreundet. Olga hatte viel zu fragen und zu danken, eine so lange Botschaft ihrer Mutter auszurichten, daß Sans ganz unbemerkt im Hintergrund stand. Er hatte mit großem Interesse die Begegnung der beiden jungen Mädchen beobachtet. Dies war nun das dritte Mal, daß er Dora sah. Es war jedesmal in einer völlig anderen Situation, und jedes mal bezauberte ihn ihre Anmut, ihre vornehme Schönheit von neuem. Stand er doch gerade in dem Atter, wo man für Frauenschönheiten am empfänglichsten ist. Er hatte das Mädchen bewundert, als sie allein der wilden Knabenhorde gegenüber stand — eine heiße Leiden schaft war in ihm erwacht, als er sie auf seinen Armen ge tragen und sie fest an sein klopfendes Herz gedrückt hatte, und nun, da er sie in der eigentlichen Sphäre des Weibes, in der trauten Häuslichkeit sah. erschien sie ihm begehrens werter denn je. Schweigend nahm er ihre Hand, und es durchzuckte ihn wie ein elektrischer Schlag. „Fräulein Smalson," sagte er endlich, sich ermannend, „erlauben Sie, daß ich meinen und meines Großvaters Dank dem meiner Braut hinzusüge, wenn auch Worte ihn schwer auszudrücken vermögen." „Sie sind alle so gütig," antwortete Dora schlicht, „aber ich verdiene die vielen Lobeserhebungen gar nicht, ich habe einfach getan, was jede andere in meiner Lage auch getan hätte." „Mele würden wohl gar nicht dazu imstande gewesen sein," entgegnete Hans, „Sie müssen vorzüglich schwimmen können." „Ja, das war ein glücklicher Zufall. Wir haben in un serer Pension nicht tanzen, Wohl aber schwimmen gelernt; jede Woche hatten wir Unterricht, und ich liebte das ganz besonders." „Und wie kräftig du bist," warf Olga ein. „Das ist vielleicht der Grund, warum ich das Wasser so Lebe, die anderen waren froh, wenn sie die Stunden versäumen konnten, die mir die liebsten waren." „Wie leicht man sein Leben auf's Spiel setzt!" bemerkte Hans nachdenklich. „Ja, darüber habe ich auch oft nachgedacht," antwor tete Dora ernst, „jeder Augenblick kann der letzte sein, eine Verzögerung von fünf Minuten, die Verspätung eines Te legramms kann zur Todesursache werden." Hans war es ganz neu, ein Mädchen in dieser Weise sprechen zu hören. — Olga in ihrer Leichtherzigkeit hatte sich nie mit derartigen Problemen beschäftigt, während Dora, als Tochter eines hochgelehrten Mannes, stets in anregend geistiger Gemeinschaft mit demselben gelebt hatte, bis ein anderes Weib den ersten Platz in seinem Hause und Herzen eingenommen hatte. Da freilich war es mit einem Schlage anders geworden; von nun an hatte Dora Gelegenheit, die Schwere des Daseins, über die sie früher nur disputiert hatte, an sich selbst zu erfahren. In angeregter Weise führten Dora und Hans das Ge spräch weiter, so daß sich Olga vollständig überflüssig Mlte. Sie hörte Fragen aufwersen und erörtern, über die sie noch niemals nachgedacht, Bücher und Schrift steller zitieren, deren Namen ihr fremd waren, sie mußte sich mit tiefer Beschämung gestehen, daß sie von der Wett, in der die beiden lebten, nicht das Geringste verstand, daß sie hier vor einer verschlossenen Pforte stand, die noch niemand ihr zu öffnen versucht hatte. Auch ihr Bräutigam erschien ihr in einem ganz anderen Lichte, noch nie hatte sie ihn so reden hören, eine nie gesehene Be geisterung sprühte aus seinen Augen, während er sprach. Und Dora war nicht weniger eifrig: dieser junge Mensch gefiel ihr doch noch viel besser als Walter Schmidt. Aeußerlich gab er diesem an Schönheit nichts nach, und seine Bildung überragte die dies Freundes uum ein Be deutendes. Sie hatte während des lebhaften Gesprächs ihre Schmerzen vollständig vergessen, und vielleicht wäre das selbe noch lange fortgeführt worden, wenn nicht Fräulein Annas Eintritt die Sprechenden unterbrochen hätte. Die gute Dame war aus ihrem Mittagsschläfchen auf geschreckt worden und hatte in ihrer Verwirrung über den vornehmen Besuch lange Zeit gebraucht, um sich standes gemäß herauszuputzen. Ms sie dann endlich erschien» machte sie so viele Redensarten, daß sie darüber die Ge mütlichkeit störte und die Gäste bald aufbrachen. Auf dem Heimwege war Hans sehr schweigsam. Er machte sich innerlich die heftigsten Vorwürfe. Während des ganzen Besuches hatte er Olga kaum einmal angese hen; Dora allein hatte seine Gedanken erfüllt, und nichk nur seine Gedanken — sein Herz, seine Seele, sein Alles. Konnte es denn eine Entschuldigung für ihn geben, der sich erst vor wenig Wochen mit Olga verlobt hatte? War er ein Heuchler, ein Betrüger, ein Verräter, oder alles zusammen? Er konnte keinen klaren Gedanken sasseu.; nur eines stand mit positiver Sicherheit bei ihm fest, Olg« war ihm nicht das teuerste Wesen auf Erden. Er wagte kaum, ihr in die Augen zu schauen, die so voll kindlicher Zärtlichkeit und Vertrauen zu ihm aufblick ten. Seine Gedanken mußten doch ein Echo in ihrem Her zen finden, denn sie sagte nach einer Weile: „Ich muß immer an Dora denken, sie ist so klug und geistvoll; ich komme mir neben ihr wie ein Gänschen vor." „Aber Olga!" „Ja, ich bin aber doch so dumm und sie ist so gescheit!" „Du bist eben anders veranlagt, es wäre dock auch langweilig, wenn alle Frauen gleich geartet wären." „Es muß aber schön sein, wenn man so reich begabt ist." „Da kannst du dich trösten Liebchen, du bist ebenso begabt, nur in anderer Weise." Er versank wieder in Nachdenken. Er wollte sein Bestes versuchen, er gelobte, Olga die Treue zu bewahren, was auch immer kommen mochte. Und sollte ibm das Herz darüber brechen — war das nicht immer noch besser als, ein Treubruch? Die Hochzeit mußte sogar so bald als möglich stattfinden, dann konnte er mit Olga eine wei te Hochzeitsreise machen, und vielleicht war Dora mitt lerweile selbst verheiratet und außer dem Bereich seiner Blicke. Vor allen Dingen mußte er sie meiden; er durfte sie nie wieder fehen. Ach, wie leicht ist es, gute Vorsätze zu fassen — ist nicht auch der Weg zur Hölle damit gepflastert? Als wenige Tage später der Schuhmacher Feldner an Villa Gudrun vorüber ging, sah er den jungen Schloß herrn mit Dora Smalson in lebhafter Unterhaltung auf einer Gartenbank sitzen. 'H' 11. Kapitel. Wachsende Leidenschaft. Hans wüßte bald nicht mehr aus noch ein. Er fühl te sich außer stände, dem gefaßten Beschluß treu zu blei ben. Doras Anziehungskraft erwies sich stärker als die besten Vorsätze. , ... !...