Volltext Seite (XML)
Herr Rentier Murmelmann. (Schluß.) „Ach was, Gegend! Mir sind alle Gegenden egal. .Wenn man um einhalbvier Uhr aufstehen muß und noch nüchtern ist — puh! Ich friere wie ein Mops. Wenn ich nur wenigstens eine Tasse Kaffes hätte!" „Na, gedulde dich bis Weimar, da frühstücken wir," tröstete die im Grunde äußerst gutmütige Gattin ihren Mann. „Und was ich dir noch sagen will, Gottfried. Wenn wir, was sehr leicht möglich ist, mit vornehmer Gesellschaft zusammengeraten, so mutzt du dich um deiner Tochter willen anstellen, als wenn du recht gebildet wärst. D:S Mädchen ist sehr gebildet und darf nicht blamiert «erden. Vor allem mutzt du dich für die schöne Gegend interessieren, mutzt bci besonders geeigneten Stellen einige bewundernde Worte hören lassen — hörst du?" „Hm, ja," ächzte Murmelmann, der schon wieder'den Kopf auf die Brust sinken lietz. „Ich werde dich allemal am Rock zupfen, wenn eine Veranlassung ist, verstanden?" „Gewiß, liebe Lina." „Weimar," rief ich, auf einen Häuserhaufen deutend, der eben vor unseren Blicken auftauchte. — — Frau Murmelmann hatte noch nit den rechten Fuß aus dem Kupee ihrem linken nachgezogen, als sie bereits wieder Hre schrille Stimme zum Zwecke der Zitation ihrer verlorenen Tochter erhob. Murmelmann dagegen folgte mir, ohne rechts und links zu schauen, in den Wartesaal, wo er sofort laut und eifrig nach dem Kellner zu rufen begann. Minute auf Minute verstrich, niemand erschien. Immer ungeduldiger rückte der Dicke aus seinem Stuhle hin und her, indem er sich nach allen Seiten umsah. „Sie beunruhigen sich gewiß über das Ausbleiben Ihrer Frau Gemahlin und Fräulein Tochter?" „Gott bewahre. Aber wo der Kellner so lange bleibt, möchte ich wissen." „Nun, wir haben ja Zeit bis k Uhr —" „Ach was, bis dahin sterbe ich vor Hunger und Durst. Bon allen Zuständen in der Well ist mir derjenige des Nüchternseins am unerträglichsten. Solange ich nichts im Magen habe, friere ich." Der Kellner kam endlich herbei und nahm die Be stellung entgegen. Doch diesen feierlichen Akt udd den Augenblick der Befriedigung unserer Wünsche trennte ein weiter, schier endloser Zwischenraum. Der frühen Stunde wegen war nur ein einziger Kellner „vorrätig", der nicht nur die Wünsche der zahlreichen Fahrgäste anzuhören und auszuführen, sondern auch den Kaffee höchst eigenhändig zu bereiten hatte. Eine starke Geduldsprobe für den star ken Herrn! Ich hätte nie geglaubt, daß er überhaupt Galle besäße, aber es bekundete sich innerhalb der nächsten halben Stunde eine reichliche Dosis dieses edlen Stoffes. Allerdings be- burste es bedeutsamer Einflüsse, ihn zu mobilisieren. Ein neues Bereinsgesetz oder ein lumpiger Krieg hätten Herrn Murmelmann vollständig kaü gelassen. Aber daß sein Früh stück eine halbe Stunde länger ausblieb — man denke —, das ist ein Ereignis, welches einen ehrbaren Spießbürger zur Verzweiflung bringen kann. Ich muß indessen zu seinem Ruhme gestehen, sein see lisches Gleichgewicht war unverzüglich wiederhergestellt, als das Frühstück erschien; seinetwegen mochten sich nun die Böcker und Monarchen die Köpfe über die soziale und orien talische Frage zerbrechen, er war mit allem zufrieden, sofern nur das Skatspiel nicht polizeilich verboten wurde! Und wie er essen und trinken konnte! Eine Semmel nach der andern verschwand in der weiten Oeffnung seines fei sten Gesichts, nichts störte ihn in seiner edlen Beschäftigung, auch nichr der Eintritt von Frau und Tochter, die sich beide draußen gefunden hatten und sich endlich — nach einem Intermezzo von der üblichen Länge, veranlaßt durch dt« Begegnung mit einer Nachbarfamilie — im Bannkreis der väterlichen Fürsorge wieder einstellten. «.Hier ist ja Papa —" Ich hörte sofort am Klange der Silbcrstimme, daß sie <eS War, obgleich ich noch niemals ihrer Lippen Laut ver nommen hatte! Gertrud, das ängstlich gesuchte Kind Mur melmanns. war mein Engel vom Perron! Natürlich segnete ich nun den Zufall, der das inter essante Ehepaar in mein Abteil führte! Ich legte Von Stund' an Gewicht auf die Bekanntschaft und bemühte mich, durch vermehrte Herzlichkeit zu ersetzen, was.ihr an Länge der Zell gebrach. Mit Dank nahm ich das Anerbieten der allen Dame an, mich der Familie anzuschlietzen, und was für herrliche Stunden verlebte ich mit dem wirklich schönen, gemütvollen und liebreizenden Wesen! Ehe wir's uns versahen, waren wir in Jena angelangt und stiegen den steilen Fuchsturmweg hinauf. Murmelmann keuchte und räsonnierte entsetzlich. Alle Minuten fragte er, ob man nicht bald oben und ob oben ein Restaurant sei. Der gute Mann verspürte Appetit» außerdem fehlte ihm jede Befähigung zum Dauerläufer und Bergfex. Da er uns nicht recht traute, fragte er einen vorüber gehenden Studenten, wie weit es noch sei bis auf die Höhe. Der lustige Bruder Studio, den Frager mit pfiffigem Schmunzeln messend, erwiderte: „O, nicht mehr weit, höch stens zwei Stunden." „Was?" schrie Murmelmann. „Zwei Stunden — man hat nnr gesagt, wir hätten im ganzen kaum dreiviertel zu steigen?" „Dann hat man Sie falsch berichtet. Wissen Sie nicht, daß der Hausberg, woraus der Fuchsturm steht, nach der Schneekoppe der höchste Berg Deutschlands ist?" Schimpfend ächzte der Rentier hinter uns drein. „Sehen Sie nur, wie er schwitzt," flüsterte mir seine Frau zu. „So ist es ihm gerade gesund. Passen Sie auf: oben kehren wir nicht ein, vielmehr steigen wir nach Zie genhain ab. Dann führe ich ihn noch heute auf den Forst und auch nach Ammerbach." „Um Gotteswillen, Frau Murmelmann — wird er das aushalten?" „Er muß!" Armer Murmelmann! Wenn du eine Ahnung von dieser schrecklichen Verschwörung gehabt hättest! Und hin ter allen Restaurants Wollle sie dich wegführen, ohne daß du es wußtest! Hungern und dursten bei all der An strengung. Endlich hatten wir ihn oben. ' Uns einer größeren Gesellschaft anschließend, glitten wir pfeilschnell den Ab hang hinab. Ehe wir's uns versahen, standen wir vor Hanfrieds Gasthof, aber wir waren nicht vollzählig. Mur melmann war verschwunden. „Wo ist mein Mann? — Wo ist Papa?" Oben hatten wir ihn noch gesehen. Gewiß sitzt er oben in dem Fuchsturmhaus und ruht sich aus. Warten wir ein wenig! Proste Mahlzeit! Wir warteten eine halbe, eine ganze Stunde! Murmelmann kam nicht. Frau Murmelmann wurde immer ängstlicher und besorgter. Wir stiegen wieder hin aus — nirgends ein Murmelmann zu sehen! „Ter arme Mann hat sich verirrt," klagte die Frau. „Wir müssen ihn suchen, er wird in Verzweiflung sein." In der Tat: wir forschten nach ihm den ganzen Tag. Da wir vom Forst gesprochen hatten, erstiegen wir die sen, in der Hoffnung, er würde sich dort einfinden. Aber er war nicht da. Wir nahmen Lichtenhain, Ammerbach und emc Reihe Etablissements durch, keine Spur von ihm. Niemand wußte etwas von ihm. Es war ein anstrengender Tag. Wir liefen in der Juliglut wie Eilboten und schwitz ten redlich den Schweiß der Edlen. Endlich drängte die Zeit zum Bahnhof. Total erschöpft langten wir dort an. „Vielleicht treffen wir ihn hier," sagte ich. Und ich hatte recht. Im Wartezimmer 1. Klasse saß Murmelmann, ein Bild stillen Friedens, vor einer gro ßen Kanne Weißbier und einer Rostwurst und blickte uns verschwitzte, bestaubte, schwer atmende Sterbliche mit mil dem Lächeln an. „Hier bist du? Gott sei Dank, daß ich dich gefunden — habe ich Angst gehabt, Mann! Den ganzen Tag haben wir nach dir gesucht." „Aber warum denn? Ich bin doch kein Kind! Ruht euch aus, ihr habt noch Zeit genug!" Diesem Rate folgten wir sogleich.