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Bald darauf stand Hans sinnend auf dem Deck eines- großen Dampfers und dachte daran, daß er nun mit der Vergangenheit, mit dem glücklichen Leben der Kindheit, abgeschlossen hatte, um einer neuen, ihm völlig unbekann- ten Zukunft in einem fremden Lande entgegenzugehen. 2. Buch. - Die Gefahr. 1. Kapitel. Dora. „Sieh, Dora, das muß der junge Herr fein,* rief Fräulein Anna, während sie unwillkürlich nach ihrem Häubchen griff, um dasselbe gerade zu rücken. „Siehst du ihn?" setzte sie fragend hinzu und trat einen Schritt näher ans Fenster. „Wen soll ich sehen?" fragte Dora und erhob ihre großen dukelblauen Augen von dem Buch, das auf ihrem Schoße lag. „Wo du fitzest, kannst du natürlich nichts sehen," sagte Fräulein Anna eifrig. „Lege doch das Buch hin, Kind, und komm her." Dora lachte und stand auf. „Meinst du den jungen Mann zu Pferde, Tantchen?" fragte sie. „Ja, gewiß. Sieht er nicht nett aus?" Und wieder rückte Fräulein Anna ihre Haube zurecht. „Er hat einen flotten Hut auf, mehr kann ich vor läufig nicht sagen. Aber soll ich vielleicht das Fenster öff nen, um ihn Lesser sehen zu können?" „Aber Kind, das würde er doch merken. Was sollte er da von uns denken?" „Nun, er würde eben sehen, daß wir ihn so bewun dern, wie es ihm zukommt. „Wieso?" „Das unterdrückte Geschlecht muß doch einmal die Herren der Schöpfung bewundern." „Kleine Törin! Du scheinst mir heute wieder etwas übermütig zu sein." „I bewahre, Tantchen," antwortete Dora mit er künsteltem Ernste. „Aber was hat der Herr eigentlich vor «nserem Gartentor zu suchen? Er tut es doch Wohl nur, nm bewundert zu werden, und ich tue ihm den Gefallen nun gerade nicht." Mit diesen Worten ging die Spreche rin auf ihren Platz zurück. Kopfschüttelnd blickte Fräulein Anna auf ihre Nichte. „Wie du wieder redest, Dora. Er spricht mit dem alten Fritz Werner; ich finde es doch hübsch von ihm, daß er so freundlich zu dem Alten ist." „Vielleicht ein angenehmer Zeitvertreib für jemand, der nichts zu tun hat." „Wahrscheinlich klagt der Alte wieder über sein Haus, Memand hat solche Mißernten, niemand solche schlechte Wohnung, wie er. Der junge Herr wird schon allerlei Angenehmes zu hören bekommen." Dora sah ihre Tante plötzlich sehr ernsthaft an. „Sprichst du von dem jungen Herrn aus Qerkedalen?" fragte sie. „Ja, von wem denn sonst?" „Nun, es gibt doch noch viele junge Herren auf der Welt." Dora blickte nun doch aus dem Fenster. „Er sieht Mr sein Alter recht ernst aus," bemerkte sie nach einer Weile. „Er soll der reine Bücherwurm sein und sich für Pferde weit weniger interessieren, als für wissenschaftliche Experimente. Auf die Jagd geht er nie." „Er sieht aus, als brauche er ab und zu eine kleine Aufmunterung." „Aber ist er nicht ein hübscher Menschs „Nun ja, stehst du, jetzt geht er. Sein Hinterkopf ge fällt mir ausnehmend." „Kind —" „Wie du nur redest," fiel Dora lachend ein. Fräulein Anna sank in ihren Stuhl zurück und nahm ihren Strick strumpf zur Hand. Sie konnte ihrer Nichte nicht ernstlist zürnen, wenn sie sich auch ost genug über deren Ucbermut ärgerte. Viele Jahre hatte Fräulein Anna allein mit ibrer Dienerschaft die Villa Gudrun bewohnt und sich ganz den Werken der Nächstenliebe gewidmet. Sie war früher eine heitere, gesellige Natur gewesen, aber trübe Lebens erfahrungen hatten sie ernst gemacht. Vor etwa zwanzig Jahren hatte ein Fremder, ein geistreicher Professor, bei ihren Eltern als Gast geweilt. Er hatte Fräulein Annas jüngere Schwester Amalie lieb gewonnen und bald darauf geheiratet. Fräulein Anna hatte die Wahl ihrer Schwester nie recht begreifen können. Amalie war ein fröhliches, von Lebenslust übersprudcln- des Geschöpfchen, und man wunderte sich allgemein, daß sie so glücklich und seelenssroh einen so gereisten Vcr- standsmenschen ihr Jawort gab. Die zurückbleibende Schwester hatte unter der Tren nung vo ihrem Liebling schwer gelitten. Doch sollte ihr noch Schwereres bevorstehen, denn nur wenige Jab re, nachdem die ungleiche Ehe geschloffen war, hatte das leichtherzige junge Geschöpf ihr blühendes Leben lassen müssen, und wiederum nach kurzer Zeit hatte der Schwa ger sich zu Fräulein^Annas Empörung zu einer zweiten Ehe entschlossen. Diese erwies sich jedoch als keine glück liche, und deshalb weilte jetzt das einzige Kind der ersten Gattin bei deren vereinsamten Schwester. Dora hatte vom Vater die Klugheit und von der Mutter Schönheit und Temperament geerbt. Sie war voll Leben und Energie und brachte mit ihrem zielbe wußten Wesen die unselbständige kleine Tante oft ganz aus der Fassung. Sechs Wochen waren seit Doras Ankunft in Villa Gudrun verstrichen, als das eben erwähnte Gespräch stattfand. Dora interessierte sich im Grunde mehr für den jun gen Herrn, als sie ihrer Tante gestehen mochte. Sie batte aus ihren Spaziergängen schon ost das stattliche Herren haus mit den herrlichen Terrassen und Parkanlagen und den alten, ehrwürdigen Bäumen bewundert, und hatte nachgedacht, ob die Besitzer solcher Reichtümer nicht glücklicher und zufriedener seien, als ihre bescheidenen, gewöhnlichen Mitmenschen. Das wenige, das sie über die Familie Söderström gehört, genügte außerdem, um ihr Interesse anzuregen. Viel Gutes war es eigentlich nicht. Der alte Herr, ein zusammengeschrmnpftes Männchen von 75 Jahren, war. ein verknöcherter Geizhals, der allgemein verhaßt war^ Sein ältester Sohn DHomas, der auf dem Meere verun glückte, hatte des Alten Eigenschaften in vollem Maße ge erbt. Von dem zweiten Sohne Eduard hörte man sehr wenig, er war bald nach des Vaters Ueberstedelung nach Oerkedale ins Weite gegangen, aber das Gerücht be zeichnete ihn als Leichtfuß, der Wohl edel veranlagt, aber wild und eigenwillig war. Auf welche Weise der Alte Gewißheit vom Tode des fernen Sohnes und ve-' der Existenz eines Onkels erlangt hatte, wußte man nichi. Es herrschten die verschiedensten Ansichten darüber, und ein förmlicher Sagenkranz wand sich um die Persönlichkeit von Peters Erben und machte denselben nur um so inter essanter. Das eine wußte man mit Bestimmtheit, daß Peters Sachverwalter vor acht Jahren nach Australien gereist war und etliche Monate später einen dreizehnjäh rigen Knaben mitgebracht hatte, der ihm als Peters recht mäßiger Enkel bezeichnet worden war. Peter liebte es nicht, viel von seinen Familenangv« legenheiten zu reden, trotzdem erzählte man sich, daß er bei der Ankunft des Erben furchtbar aufgeregt gewesen sei. Er hatte wütend behauptet, das könne nicht sein En kel sein, da auch nicht die geringste Familienähnlichkeit bei ihm vorhanden sei — verbürgen konnte man sich na türlich dieses Gerücht nicht. Von Aehnlichkeit war allerdings zwischen Peter und seinem Enkel keine Spur zu finden, ebenso zwischen letz terem und seinem Onkel Thomas oder dessen einziger Tochter Olga, die mit ihrer Mutter eine hübsche kleine Villa unfern des Herrenhauses bewohnte. lForlseßung folgt.) j