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Herr Rentier Mnrmelmann. Humoreske von Friedrich Thieme. (Nachdruck verboten.) Ich habe zwei Eigentümlichkeiten. Erstens reise ich gern ganz früh am Morgen, wenn die Sonne eben purpurn im Osten aufsteigt, und zweitens reise ich am liebsten in einem Kupee, worin eine hübsche junge Dame sitzt— mög- lichn nicht unter sechzehn und nicht über fünfundzwanzig. Ich stelle mich zu diesem Behufs immer ziemlich zeitig auf dem Bahnhofe ein, beschaue mir aufmerksam die herum lungernden Passagiere in spe, entscheide mich für ein ge eignetes Wesen femrnini generis und nehme im kritischen Augenblicke in dem Kupee Platz, wo dieses verschwun den ist. Notabene: Ich bin kein Don Juan. Meine Leidenschaft für diese Art des Reisens begnügt sich mit dem rein plato nischen Effekt der Anwesenheit des Gegenstandes meiner Anbetung. Ich bewundere ihn, wie ich ein schönes Gedicht oder eine schöne Blume bewundere. Nicht, daß ich etwa prinzipiell abgeneigt wäre, eine nähere Bekanntschaft an zuknüpfen und fortzusetzen, ich bin ja jung, ledig und gehe in Freiersfliefeln. : Das heißt, was ich hier schreibe, galt alles für da mals, als es eben noch zutras. Jetzt fungiere ich längst als gut-solldes Familienoberhaupt und erfreue mich der Reize einer Ehe, die das glückliche Resultat meiner allen Nei gung und einer infolge derselben angeknüpften und fort gesetzten Bekanntschaft ist. An dem kritischen Tage erster Ordnung, welcher alle diese Wirkungen in seinem Schoße trug, stand ich wie so manchmal auf dem Perron, mit meinen Blicken die elfen- glsiche Schönheit eines Engels in geblümten Musselin ver schlingend, mit den schmückenden Beigaben eines glänzend blonden Hängezopfes mit roter Schleife, zweier Augen wie frisch erblühte Veilchen, eines lichtfarbenen Strohhutes und schneeweißen Sonnenschirms. Unablässig den an der Grenze des Backfischalters lieb lich flatternden Sommervogel bewundernd, hatte ich nicht Auge, noch Ohr für seine Begleiter. Daher passierte mir, als nun keuchend und pustend das eiserne Ungetüm heran brauste, das Malheur, daß ich nicht wußte, an wen ich mich halten sollte, als die heranstürmende Menschenflut meinen Engel plötzlich in ihrer gähnenden Tiefe begrub. Ratlos suchte ich herum, aber es war keine Zeit zu ver lieren. Ein leeres Kupee nahm mich auf, ich setzte mich in einer Ecke fest, und steckte meinen Kopf sodann durch das Fenster, meine Forschung von neuem aufnehmend. Vergebliche Mühe! Der Perron war leer, nichts mehr zu sehen als eine alte hagere Dame mit einem allen dicken Herrn im Schlepptau, dis beide atemlos den Zug entlang hasteten. Tie Dame, beständig einen Schirm wie einen Drazonersäbel in der Luft herumfuchtelnd, drückte in den höchsten und lautesten Molltönen ihre Sehnsucht nach einem unsichtbaren Etwas aus. . „Gertrud! Gertrud!" rief sie unausgesetzt, indes der alte Herr mühsam hinter ihr her keuchte, sich beständig den Schweiß mit einem roten Taschentuch von der Sürn reibend und in einem fort stöhnend: „Lina, so lauf doch nur nicht so!" - „Einsteigen, meine Herrschaften!" schrie der Schaffner. „Wir fahren gleich ab!" Und tatsächlich erklang unmittelbar darauf der Signal- Pfi-f des Stationsvorstehers. „Warten Sie!" jammerte die Alte. „Mein Kind, meine Gertrud! Sie dürfen noch nicht fort!" Aber der Schaffner machte kurzen Prozeß, riß eine bereits geschlossene Kupsetür aus und eskamotierte Mann und Frau mit erstaunlicher Gewandtheit ins Innere. Es war die höchste Zeit, denn eben setzte sich der Zug in Bewegung. Tas Abteil aber, in welches sich das ungleiche Paar in so ungestümer Weise versetzt sah — der Leser ahnt Wohl mein Unglück — es war das meine! Und ich wäre doch so gern mit meinen Gedanken solo gewesen. Indessen — das Wetter war zu herrlich» das Benehmen meiner Reisegefährten zu kurios, als daß ich lange im Schmollwinkel hätte Station machen können! Riß doch die alte Dams entrüstet das Fenster auf und rief gebieterisch hinaus, der Zug müsse sofort halten, da sie ihre Tochter suchen wolle. Ja, sie drohte sog« mit Polizei, Ministerium und König. Einmal griff fte M ihrer Ueberspanntheit selbst nach der Notleine, und ge«<h hätte sie mit der Kraft einer zornigen Löwin daran ge zogen, wenn ich ihr nicht rechtzeitig in den Ar« ge fallen wäre. Der alte Herr zeigte sich als das vollendete Gegen stück. Ern Ideal von Ruhe und Gleichmütigkeit saß er Mc gegenüber in einer Ecke, ohne sich an den wütenden Ver suchen seiner Gemahlin auch nur im allergeringsten zu beteiligen. „Tu Rabenvater!" schrie die Dame ihn an. „De:v ein ziges Kind ist verloren, tot, überfahren, und du hockst ier wie ein Dachs und rührst dich nicht. So ärgere bi« doch wenigstens!" „Ja, ja, Linchen, ich ärgere mich ja schon," antwortete er begütigend, indem er sich seelenruhig eine Zigarre an- fieckte. Jetzt übernahm auch ich eine Rolle in der Komödie. „Beruhigen Sie sich, Madame, Ihr Töchterchen wird ein fach in einem anderen Wagen Platz genommen haben. Ans der nächsten Station werden wir es wiederfinden," sagte ich höflich. .^Meinen Sie wirklich?" Ihr Zorn löste sich in Tin nen auf „Eine Mutter ist natürlich besorgt um ihr Kind-i" „Natürlich, natürlich. — Kinder sind ja unverständig und wissen sich nicht so zu helfen wie unsereiner." „Ganz recht, mein Herr — und besonders Gertrud — das Kind ist so unerfahren." „Wie all ist denn die Kleine?" „Achtzehn Jahre!" „Was?" Meine Anstrengungen, meine heitere Stimmung zu v«- bergen, versagten hier, und ich explodierte wie ein «Ver heizter Dampflessel. Glücklicherweise nahm die alte Dame die Eruption nicht nur nichl übel, sondern stimmte sogar herzlich in das Gelächter ein. Trotzdem zeitigte der Vorfall ein wenig angenehmes Nachspiel. Ich wurde die geschwätzige Frau nun nicht wie der los. Sie gab mir unaufgefordert ihre ausführliche Biographie und die Lebensbeschreibung ihrer sämtlichen Anverwandten und Bekannten noch obendrein. So er fuhr ich unter anderem, daß der dicke alte Herr der Rentier Murmelmann aus Erfurt sei, daß ihm der Arzt anbefohlen habe, viel zu gehen, um sich einige Pfund leichter zu machen, und daß sie ihn heute zum erstenmal soweit gebracht hätten, sich an einer Spazierfahrt nach Jena zu beteiligen. „Sie können es sich nicht denken, was es für Mühe gekostet, ihn so früh aus den Federn zu reißen, und," fügte sie leiser hinzu, als sie sich überzeugt, daß Murmelmamr den Schlaf des Gerechten schlief, „ich will's Ihnen n« gestehen: ich habe einen schlauen Plan entworfen. Mein Mann kennt die Gegend nicht, ich aber desto besser. Nun will ich ihn so führen, daß er laufen muß wie ein Scho- tendisb, immer unter dem Vorgehen, daß wir uns ver irrt hätten und kein Restaurant in der Nähe sei. Der ftM mir schon einmal gehörig schwitzen," meinte sie Pfiffig lächelnd. Im selben Augenblick verwandelte sich jedoch ihre hei tere Miene in einen Ausdruck des Entsetzens. „Ach Herrjeses, der neue Anzug brennt," rief sie un ter lautem Jammern. Rasch griff ich zu und entfernte den verhängnisvollen Gilmmstengel, welcher ein wenig angenehmes Andenken i» Gestalt einer beinahe haselnußgroßen, kreisrunden OeU- enung in den Beinkleidern des Schläfers zurückgelafsen hatte, von seinem ungehörigen Ruheplätzchen. Die Dame, das Defizit gewahrend, erhob ein lautes Lamento, der Rentier aber, von ihr mühsam ermuntert, betrachtete sich die Brandstätte durch seine Brille hindurch mit erstaun licher Gleichgültigkeit, als ginge ihn die Sache nicht dos Geringste an, und fragte dann gutmütig, weshalb sie ihn eigentich gelwsckt habe. „Du sollst die schöne Gegend ein wenig genießen," antwortete schmollend Frau Murmelmann. (Schluß folgt).