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Wir haben in Mildenburg und verbessernd ein. man zuzeiten an der Stelle sehen soll, wo er seinem Leben ein Ende gemacht. Im vorigen Jahr fand sich eine Familie aus Hannover, die das Haus zum Sommeraufenthalt mietete, nachdem es in der Zeitung ausgeschrieben worden war. Damals hatte ich leider versäumt, die Herrschaften von den Ereignissen zu unterrichten, die sich in dem Landhause abgespielt hatten. Und es gab einen gewaltigen Aerger, als dis Dame dann später doch davon erfuhr, und als sie so gar den Geist zu sehen vermeinte." „Den Geist, der an der alten Standuhr hing' ,fragte der Fremde sarkastisch. Welcker ssvior aber bewahrte seine ernsthafte Miene. „Es ist selbstverständlich ein törichter Aberglaube, dem kein vernünftiger Mensch irgendwelche Bedeutung beilegen kann. Aber ein bischen unheimlich mag nach den Schilderungen der damaligen Bewohner die Sache immerhin gewesen sein. Die Erscheinung des Geistes erklärte sich ja an und für sich auf sehr natürliche Weise. Sie wurde nämlich hervorgerufen durch einen eigen tümlichen Lichtefsekt der untergehenden Sonne zu einer bestimmten Zeit des Jahres." „Ein Gespenst bei Sonnenuntergang? Das konnte von vornherein kein richtiggehendes Gespenst sein. Denn deren Zeit ist ja von Alters her die Mitternachtsstunde. Zu anderen Zeiten hat kein Schatten eines Abgeschiede nen etwas auf der Erde zu suchen, sofern er nicht für einen Schwindler gehalten werden will." „Ja — in diesem Fall geht es aber beim besten Willen nicht anders. Denn es bedarf der untergehenden Sonne, um das Gespenst zustande zu bringen. Ueber der Eingangstür, die in die Wohndiele führt, befindet sich nämlich ein kunstvolles, altes Glasfenster, das das Bild eines geharnischten Ritters zeigt. Unter gewissen Beleuchtungsvoraussetzungen wird das Bild von den schräg einfallenden Sonnenstrahlen auf die gegenüber liegende Wand geworfen, und dort soll es eben zu be stimmten Zeiten eine erschreckende Aehnlichkeit mit einem aufgehängten Menschen gewinnen." „So? — Und das ist alles? Einzig um des Ge spenstes willen tragen Sie Bedenken, mir das Haus zu vermieten?" „Ich sagte Ihnen ja, mein Herr, daß ich im vorigen Jahr mit den Herrschaften aus Hannover schrecklichen Aerger gehabt habe. Schließlich mußte ich ihnen, um des lieben Friedens willen, nicht nur die vorausgezahlte Miete zurückerstatten, sondern auch noch einen Teil der aufgewendeten Reisekosten vergüten. Dieser Gefahr möchte ich mich nicht gerne zum zweiten Male aus- ietzen." „Nun, wenn es sich um nichts anderes handelt als um den bewußten Geist, haben Sie derartiges bei mir nicht zu fürchten. Aber warum leben die Besitzer nicht in dem Hause?" „Ich weiß es nicht. Man hat weder die Gattin noch die Tochter des unglücklichen Gotter hier jemals wiedergesehen. Sie sind nicht einmal zur Beerdigung des Selbstmörders gekommen — angeblich wegen einer plötzlichen Erkrankung der Witwe. Und schließlich ist es ja auch zu begreifen, daß sie sich nicht sonderlich zu einer Stätte hingezogen fühlen, die für fie mit so düsteren und schmerzlichen Erinnerungen verknüpft sein muh." „Wieviel Zimmer hat das Haus?" „O, es ist geräumig genug selbst für eine größere Familie. Da ist die Diele, ein Speisezimmer, ein Herrenzimmer, ein Salon und fünf Schlafstuben im oberen Stockwerk. Der Garten ist groß und schön, wenn auch in den letzten zwei Jahren wenig oder njchts für seine Instandhaltung geschehen ist. Läge das Haus in der Nähe einer großen Stadt, so wäre es ohne Zweifel ein sehr rentables Objekt. So aber könnten Sie es bei Verpflichtung auf mindestens ein Jahr für hundert Mark monatliche Miete haben. (Fortsetzung folgt.) Umgebung weder vorher noch nachher ein schöneres gehabt." „Nun ja — es mag sein, Philipp, aber das hat doch hier weiter keine Bedeutung. Die Gotters waren überhaupt sehr nette und liebenswürdige Leute. Kein Mensch tonnte ihnen etwas Uebles nachsagen, und sie standen hier in der Stadt in großem Ansehen. Nie mand konnte so recht begreifen, wie sie dazu ge kommen waren, sich in die Einsamkeit des Heidehauses zu begraben. Aber sie fühlten sich allem Anschein nach dort vollkommen glücklich, bis zu dem Augen blick, wo die Katastrophe eintrat." „Eine Katastrophe? Gab es einen Unglücksfall? Oder vielleicht gar ein Verbrechen?" „Nein — keines von beiden — aber einen höchst rätselhaften Selbstmord, der hier in Mildenburg lange Zeit das Tagesgespräch gebildet hat. Er muß jetzt ungefähr zwei Jahre her sein, daß " „Nein, es sind sogar genau zwei Jahre, Papa," half Philipp der Jüngere wieder nach. „Es war im Juni — ich erinnere mich dessen ganz genau." „Ja — also im Juni war es, als Frau Gotter und ihre Tochter eines Tages durch Mildenburg kamen, mit Kisten und Koffern, um eine größere Reise anzu treten — ins Ausland, wie man hörte. Der alte Herr war allein im Heidehaus zurückgeblieben, und eine Woche später fand man ihn als eine Leiche darin vor. Er hatte sich auf der Wohndiele aufgehängt, unmittelbar neben einer alten Standuhr aus Urväter zeiten. Es gab ein gewaltiges Aufsehen, wie Sie sich wohl denken können, mein Herr! Denn es gehört glücklicherweise nicht zu den Mildenburger Gewohn heiten, sich aufzuhängen, und gerade dem freundlichen und gemütlichen alten Herrn hätte man solche Narr heiten am wenigsten zugetraut. Seitdem wäre von den Einheimischen um keinen Preis jemand in das Heidehaus gezogen, zumal auch noch ein albernes Gerede geht von dem Geist des Verstorbenen, den alaub« nicht, daß dies das Geeignete für Sie sein würde." „Und warum nicht? — Befindet sich das Haus nicht in gutem Zustande?" „O, was das betrifft — es ist zwar schon alt, aber vortrefflich gebaut. Ich bin überzeugt, daß man es noch nach hundert Jahren ohne Unbequemlichkeit würde bewohnen können." „Oder hapert es mit der Einrichtung? Ist es unvollständig möbliert?" „Auch das nicht. Die Ausstattung ist vielleicht nicht gerade luxuriös und auch wohl etwas altmodisch; aber sehr solide und für billige Ansprüche jedenfalls genügend." „Nun, woran liegt es denn sonst? Sie müssen doch irgendeinen Grund haben für die Annahme, daß dies Heidehaus nicht das für mich Geeignete wäre." Obwohl der junge Mann im Sportanzuge hinter dem Rücken des Fremden alle bekannten Hilfsmittel der optischen Telegraphie aufgebcten hatte, um die Bedenklichkeiten seines alten Herrn zu zerstreuen, war es ihm doch nicht gelungen, Welcker senior von dem Wege des geschäftlichen Anstandes abzudrängen. So hoch er auch jeden, selbst den bescheidensten Profit zu schätzen wußte, höher stand dem Oberhaupt der Firma doch offenbar feine kauimännische Gewifsenspflicht. „Ich könnte es nicht verantworten, Ihnen das Haus zu empfehlen, mein Herr, ohne daß Sie seine Geschichte kennen. Der letzte Besitzer, der es viele Jahre hindurch bewohnt hat, war ein Herr Stephan Gotter, eine Art von Privatgelehrter, soviel ich weiß. Er lebte da mit seiner Gattin und seiner Tochter, einem sehr hübschen jungen Mädchen." „Du kannst getrost sagen: .einem sehr schönen jungen Mädchen', Papa," fiel Philipp Welcker junior