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Die Betroffenheit des jungen Mädchens war bei dieser Mitteilung ersichtlich nicht geringer als die seiner Mutter. Mit schlaff herabhängenden Armen stand sie da, ein Bild der vollkommensten Ratlosigkeit. „Ja, das ist schlimm, Mutter — sebr schlimm. Du hättest ihm doch die Schlüssel nicht geben dürfen." „Habe ich sie ihm denn gegeben? Genommen hat er sie — einfach weggenommen. Es gibt ja keinen frecheren Menschen auf der Welt als diesen jungen Welcker." „Wenn ich nur dagewesen wäre! Wenn du mich nur gleich gerufen hättest, Mutter!" „Was hätte deun das nützen sollen? Glaubst du etwa, daß du imstande gewesen wärst, es zu ver hindern ?" „Ich würde die Schlüssel an mich genommen haben und würde mit ihnen gegangen sein." „Na — und dann? Hättest du es damit vielleicht abgewendet?" „O, ich würde schon eine Möglichkeit gefunden haben. — Ich würde sie unter irgendeinem Vorwande unten aufgehalten haben, bis ich . Aber sie nehmen es mit der Besichtigung vielleicht nicht so ge nau. Der fremde Herr wird ja nicht im Ernst daran denken, das Heidehaus zu mieten." „Welcker sagte, der Vertrag wäre schon so gut wie abgeschlossen. Und der Fremde wird seine Nase natürlich in jeden Winkel siecken. Lauf, Kind, so schnell dich deine Füße tragen, und sieh zu, daß du ihnen zuvorkommst! Vielleicht bringst du es doch noch fertig, das Unglück abzuwenden." Sie brauchte ihre Aufforderung nicht zu wieder holen. Unverzüglich machte sich das junge Mädchen im Laufschritt auf den Weg. Sie eilte die Dorfstraße hinab und dann mit der Behendigkeit des gesunden Landkinües den Hügel hinauf, hinter dem das statt liche Heidehaus sichtbar wurde. Aber der Vorsprung, den Philipp Welckers munteres Pferdchen gehabt hatte, war trotz des Umweges, den es machen mußte, bereits zu groß gewesen. Betty Jürgensen war noch um mindestens hundert Schritte von dem Gartentor ent fernt, als sie sah, wie die beiden Herren im Innern des Hauses verschwanden. Beide Hände auf das stür misch pochende Herzchen drückend, blieb sie in tiefer Bekümmernis stehen. „O weh! Und ich hatte so fest versprochen, daß keine Mcnschenseele etwas davon erfahren sollte!" sagte sie vor sich hin. „Warum nur hat die Mutter mich nicht gleich gerufen! Jetzt ist es zu spät. Aber hin gehen will ich doch. Wenn ich ein bißchen Glück habe, wird es mir vielleicht doch noch gelingen." Und mit einem Ausdruck mutiger Entschlossenheit auf dem frischen Gesicht setzte sie ihren Weg fort. 2. Kapitel. Das Heidehaus. Während Welcker junior, der nicht gleich den rechten Schlüssel finden konnte, mit dem Oeffnen der Haustür beschäftigt war, musterte Robert Arenberg die land schaftliche Umgebung, und er kam dabei zu einem recht befriedigenden Ergebnis. Das Heidehaus hatte in der Tat eine wunderschöne Lage, wenigstens für jemanden, dem auch eine weite Flachlnndschaft ihre eigentümlichen Reize zu offenbaren vermochte. Denn ringsum gab es nur Heideland, mit vereinzelten welligen Erhebungen von geringer Höhe, kleinen, inselartigen Baum- und Strauchgruppen und vereinzelten Weihern, die durch ein von phantastisch gestalteten Weiden umsäumtes Flüßchen gespeist wurden. Das Haus selbst lag hoch genug, um einen weiten Rundblick zu gestatten, der erst in weiter Ferne durch eine in blauem Duft verschwimmende Hügelkette begrenzt wurde. Auch das nahe Dörfchen mit seinen dicht zusammengedrängten, ganz in sattes Grün gebetteten Häusern war vollkommen zu übersehen, lieber dem ganzen Bilde aber lag die tiefe, friedliche Stille einer weltabgeschiedenen, vom Strom des Verkehrs noch fast unberührten Gegend. Die Straße, die, von der Mildenburger Chaussee ab- zweigend, an dem Landhause vorbei durch die Heide führte, würde um ihrer Beschaffenheit willen das Helle Entsetzen jedes Automobilisten erregt baden. Sie war voller Löcher und von Gras und Unkraut üppig über wuchert. Selbst ein Landstreicher würde ohne Zweifel Bedenken getragen haben, diesen wenig einladenden Weg einzuschlagen. Der neue Mieter des Heidehauses war also mit dem Ergebnis seiner vorläufigen Musterung zufrieden, und eine nicht geringe Befriedigung empfand er beim Betreten der großen, angenehm kühlen Wohn diele, in die man durch die Eingangstür des Hauses gelangte. „Merkwürdig", sagte Welcker junior. „Sollte man nicht denken, die Bewohner befänden sich nur auf einem Spaziergang? Sieht das aus wie eine Behausung, die schon seit zwei Jahren leer steht?" Seine Verwunderung war durch den Anblick einer Anzahl von Kleidungsstücken heroorgerufen, die an den Garderobenhaken des kleinen Vorplatzes hingen. Sie bestanden aus einem Herrenmantel, einem weichen, breitrandigen Kalabreser, einem Panamahut, einem einfachen Damenhütchen und einem langen, grauen Damenmantel, wie ihn die Autofahrerinnen zum Schutz gegen Staub und Regen zu tragen pflegen. „Den Panamahut kenn' ich gut", sagte Welcker, indem er die staubbedeckte Kopfbekleidung vom Nagel nahm. „Der alte Gotter pflegte ihn mit Vorliebe zu tragen. Es ist dock ein sonderbares Gefühl, zu denken, daß der Eigentümer nun schon seit zwei Jahren auf dem Mildenburger Friedhof modert." „Da wir gerade von ihm sprechen, möchten Sie mir nickt die Stelle zeigen, an der er seinen Auszug aus diesem irdischen Iammertal^bewerkstelligt hat ?" Welcker junior tat ein paar Schritte gegen die hohe, altertümliche Standuhr hin, die sich der Eingangstür gegenüber sehr stattlich von der dunklen Mahagoni holz-Täfelung der Dielenwand abhob. „Sehen Sie den Haken hier neben der Uhr ?" fragte er. „Er diente zum Aufhängen des chinesischen Gong, der jetzt dort drüben in der Ecke lehnt. Da baumelte über einem umgestürzten Stuhl der Leichnam des allen Herrn, als man gewaltsam in das Haus eindrang, nachdem er ein paar Tage lang kein Lebenszeichen von sich gegeben hatte. Er war " „Herr Welcker — ach, bitte —" Eine zaghafte weibliche Stimme war es, die diese Worte gesprochen. In der offen gebliebenen Eingangs tür stand Betty Jürgensen, nach ganz atemlos von ihrem schnellen Lauf. Und als der Angeredete sich nach ihr umwandte, fuhr sie in bittendem Tone fort: „Meine Mutter hat mich hergeschickt. Sie meint, die Herren sollten " Die Erinnerung an die Schwierigkeiten, die Frau Jürgensen ihm eben bereitet hatte, machte den Junior chef der Mildenburger Spediteurfirma sehr ungnädig. „Was Ihre Mutter meint oder nicht meint, ist mir sehr gleichgültig. Es war unerhört, mir die Schlüssel nicht sofort herausgeben zu, wollen. Ich werde dem Notar Klingenberg sagen, daß er die Sorge für - s Haus künftig besser anderen Leuten anoerlraut als euch." „Aber meine Mutter meinte doch nur, daß das Haus erst ein wenig in Ordnung gebracht werden müßte, ehe der Herr es in Augenschein nähmtz. Wenn die Herrschaften nur für fünf oder zehn Minuten im Garten verweilen wollten, könnte ich wenigstens inzwischen.das Allernotwendigste besorgen." (Fortsetzung folgt.)