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(Fortsetzung folgt.) Als die Malschule des Professor Grünwald am Abend dieses achtundzwanzigsten Juni, von der Lust des Tages ermüdet, auf dem Münchener Hauptbahnhof eintraf, schallte den Teilnehmern des Ausfluges eine furchtbare, zermalmende Kunde entgegen. Dichte Men schenscharen drängten sich mit verstörten Mienen vor den überall angeschlagenen Telegrammen, und aller orten ging das Unfaßliche von Mund zu Mund: „Der österreichische Thronfolger, Erzherzog Franz Ferdinand, und seine Gemahlin, die Herzogin von Hohenberg, sind heute in Serajewo durch Revolver- schüsse des Mitgliedes einer serbischen Verschwörerbande ermordet worden." Verweht und zerstoben war wie vor dem ersten Windstoß eines heraufziehenden Unwetters auch der letzte Rest jugendlich sorgloser Fröhlichkeit, und gleich den eisigen Schauern einer furchtbaren Ahnung ging durch alle Herzen das Empfinden, daß da drunten im fernen Serajewo unter den Händen eines ruchlosen Meuchelmörders der Funke aufgeglimmt sein könnte, an dem sich der entsetzlichste aller Weltenbrände ent zünden werde. mal überlas, griff es ihr wie eine seltsame Beklemmung an das Herz. „Eines letzten Auftrages" wollte der Russe sich ent ledigen? Was konnte er damit anderes meinen als den letzten Auftrag eines Sterbenden — eines Toten? Und wer konnte dieser Tote sein? Einer, den sie beide gekannt hatten — vielleicht gar einer von denen, mit denen sie noch gestern fröhlich gewesen waren? Es war eine Vermutung, die sie selber schon im nächsten Augenblick als etwas höchst unwabrscheinliches, ja schier Unmögliches wieder aus ihren Vorstellungen zu bannen suchte. Aber der Druck ließ sich nicht mehr von ihrer Seele abwälzen, und nach einem letzten kurzen Zaudern erteilte sie dem Mädchen den Auftrag, den Herrn zu ihr heraufzuführen. Mitten im Zimmer stehend, erwartete sie den Ein tretenden, schon durch ihre Haltung und durch die Art des Empfanges deutlich kundgebend, daß sie nur auf ein kurzes Verweilen rechne. Aber sie erschrak von neuem, als der junge Maler jetzt auf der Schwelle er schien. Er sah aus, als wäre er seit dem gestrigen Nachmittag um ein Jahrzehnt gealtert, oder als wäre er über Nacht von einer schweren Krankheit befallen worden. Aus seinem ohnehin bleichen Gesicht schien auch der letzte Blutstropfen gewichen, und breite dunkle Schatten lagen unter seinen todestraurigen Augen. „Ich bitte um Verzeihung," sagte er, sich der deutschen Sprache bedienend, die er vollkommen be herrschte. „Es ist eine sehr große Dreistigkeit. Aber die außergewöhnlichen Umstände werden mich vielleicht bei Ihnen entschuldigen, mein gnädiges Fräulein! Mein Freund Milan Georgewitsch hat mich beauftragt, diesen Brief in Ihre Hände zu legen und Ihnen, falls Sie es wünschen sollten, mündlich die dazu nötigen Er läuterungen zu geben." Er hielt ihr den verschlossenen Umschlag entgegen; aber Hertha zögerte noch, ihn anzunehmen. „Ich bin einigermaßen erstaunt, Herr Makarow," erwiderte sie, wenn auch ohne Unfreundlichkeit, so doch mit fühlbarer Zurückhaltung. „Meine Beziehungen zu Herrn Georgewitsch sind niemals von der Art gewesen, daß sich daraus die Notwendigkeit einer Korrespondenz ergeben könnte. Wenn Sie, wie ich vermute, den In halt dieses Briefes kennen, so würde ich vorziehen, diesen Inhalt aus Ihrem Munde zu erfahren." „Nein, Fräulein von Raven, ich kenne den Inhalt des Briefes nicht. Aber ich bitte Sie recht von Herzen, ihn nicht zurückzuweisen. Ich bin sicher, daß nichts darin steht, was Sie kränken könnte. Und außerdem — außerdem ist es doch auch der Brief eines Mannes, der — der nicht mehr unter den Lebenden weilt." Hertha hatte ein Gefühl, als wäre sie mit einem Kübel eiskalten Wassers überschüttet worden, und es flimmerte ihr vor den Augen. Gewiß hatte sie niemals irgendein wärmeres Interesse für diesen finsteren, ver schlossenen Serben gehegt; aber diese Todesnachricht traf sie zu unerwartet und zu unvermittelt, als daß sie nicht notwendig eine erschütternde Wirkung hätte auf sie ausüben müssen. Milan Georgewitsch stand vor ihrem Geiste als ein gesunder, kraftvoller Mensch in der vollen Blüte der Jugend, und noch gestern hatte sie ihn mit seiner tiefen, rauhen Stimme, die doch einen wunderbar beseelten Klang annehmen konnte, eines der bei aller Eintönigkeit ergreifenden Heldenlieder seiner Heimat singen hören. Daß sein Mund nun für immer verstummt jein sollte, noch vermochte sie es nicht zu fassen. See" tummelte sich das Völkchen der wieder vereinigten Künstler, und vielleicht schon im nächsten Augenblick konnte man ihrer von da unten ansichtig geworden sein. „Auf morgen also, mein Liebl" flüsterte Erich Leuthold Hertha zu. „Ich werde den versprochenen Brief erwarten. Aber von welcher Art auch immer er sein möge, nichts in der Welt wird mich abhalten können, nach seinem Empfange zu dir zu eilen und dir zu wiederholen, daß du mein bist — mein für Zeit und Ewigkeit!" Hertha von Raven antwortete ihm nicht mehr, sondern eilte beflügelten Schrittes zum Seegestade hinab, von dem fröhlichen Zuruf der übermütigen Schar empfangen. Erich Leuthold folgte ihr erst in einiger Entfernung nach. Er besaß nicht genug schau spielerisches Talent, um eine sorglos heitere Stimmung zu erheucheln, und seine Augen suchten den Serben, gegen den er in diesem Moment etwas wie einen wirklichen Haß fühlte. Ader er suchte ihn vergebens. Milan Georgewitsch und sein Freund Wladimir Makarow wurden nicht wieder im Kreise der Kunstgenossen sichtbar. Sie mußten es vorgezogen haben, sich noch vor der Be endigung des kleinen Festes allein auf den Heimweg zu machen. 5 2. Kapitel. - ' 'Ein Abschied. Es war kn ziemlich früher Vormittagsstunde des folgenden Tages, als das Stubenmädchen der Pension „Daheim" an die Zimmertür des Fräulein Hertha von Raven klopfte, um ihr zu melden, unten im Sprech zimmer sei ein Herr, der sie in sehr dringender Ange legenheit zu sprechen wünsche. Auf der Besuchskarte aber, die sie dem jungen Mädchen gleichzeitig über reichte, stand unter dem Namen Wladimir Makarow, mit Bleistift in französischer Sprache geschrieben: „Mit der inständigen Bitte, einen letzten Auftrag ausrichten und fick persönlich verabschieden zu dürfen." Hertha, Lie blaß und übernächtig aussah und deren Augen die deutlichen Spuren reichlich vergossener Tränen aufwiesen, war im ersten Moment sehr geneigt, dem Besucher erwidern zu lassen, daß sie zu ihrem Be dauern außerstande sei, ihn zu empfangen. Sie hatte während der mehrmonatlichen Dauer ihres Münchener Aufenthalts niemals Herrenbesuch gehabt und fühlte sich durchaus nicht veranlaßt, gerade Herrn Wladimir Makarow zuliebe eine Ausnahme davon zu machen. Dann aber, als sie die Worte auf der Karte noch eiw