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ZUR EINFÜHRUNG »Erstes sinfonisches Schaffen« 1 *as reine sinfonische Schaffen setzt bei Johannes Brahms erst ziemlich spät innerhalb seines Gesanit- werkes ein. Die Serenaden op. n und op. 16 sind mit den Variationen op. 56 Vorläufer der vier Sinfonien, zu denen sich Brahms innerlich nur mit einer gewissen Belastung vortastete. Den Riesen Beethoven vor sich hermarschieren zu wissen hemmte seine Entschlußkraft, sein künstlerisches Gewissen verlangte von ihm außer einer großen menschlichen Reife, die sich Brahms zunächst nicht zutraute, auch eine be sondere Anspannung aller seiner handwerklichen Kräfte und seines Talentes. Der ernste, verschlossene Mensch, der er war, der durch die Sprödigkeit seines Wesens vor dem Wagnis zurückschreckte, eine Sin fonie zu schreiben, zögerte also lange — und erst mit seinem op. 68 erfüllt er die Wünsche der Welt und die seiner engeren Freunde, die von ihm schon längst ein Werk solchen Ausmaßes und des Bekenntnisses erwarten. Aber zugleich tritt wieder so etwas Verhängnisvolles und ihn selbst nicht gerade Förderndes ein (wie damals, als Schumann ihn als Genie in seinem Aufsatz „Neue Bahnen“ der Welt vorstellte und worauf man Ungeheures von ihm erwartete): Man sieht in ihm den Vollender Beethovens. Nun setzt allerdings Brahms mit seiner 1. Sinfonie in c-moll dort ein, wo Beethoven mit seiner Schicksals sinfonie, der 5. in c-moll, hielt. Bülow nennt die „Erste“ von Brahms „die Zehnte“, womit er den Hin weis auf die Nachfolge Beethovens klar ausspricht. Brahms selbst litt unter solchen Vergleichen, da er sich immer des Abstandes von Beethoven bewußt war, da er außerdem den künstlerischen Ehrgeiz hatte, Eigenes auszusagen. Bülow will aber mit seinem Ausspruch auch auf eine so auffällige Verwandtschaft des Hauptthemas des vierten Satzes der 1. Sinfonie von Brahms mit dem Freudenthema der „Neunten" von Beethoven hinweisen, die vielleicht doch nicht nur zufällig ist. Brahms war immer ärgerlich, wenn man ihm diese verblüffende Ähnlichkeit vorwies — er meinte dann in echt hamburgischer Grobheit, daß es seltsam sei, daß dies auch jeder Esel sofort merke. Die 1. Sinfonie,op. 68, in c-moll wurde 1877 veröffentlicht. Die Einleitung zum ersten Satz ist voll größter Spannungen, der Orgelpunkt der Pauke zu Beginn stützt eine Musik von dramatischer Wucht und Er habenheit. Der Aufbau dieses Satzes ist klassisch, beide Themen sind klar formuliert und deshalb klar zu erkennen. Brahms hat nun eine eigene Art der Durchführung, die sein Wesen, seinen grüblerischen Ernst und seine spröde Verhaltenheit deutlich erkennen läßt. Der englische Dramatiker Priestley sagt in einem Roman über dieses Werk einmal, daß er den Eindruck habe, daß Brahms mürrisch und grollend in der Ecke stehe und der übrigen Welt den Rücken kehre. Er hat nicht ganz Unrecht, weil er mit diesem Bild die Neigung zum Pessimismus, der Brahms niemals ganz Herr werden konnte, andeutet. Auch Clara Schumann sagt ihm selbst in einem Briefe, sie fürchte sich vor der Düsternis und Kantigkeit seiner Seele, die sich gerade in diesem Satz offenbare, der mit dem Orgelpunkt des Beginns wieder ab schließt. Der liebliche zweite Satz, der ebenfalls zwei musikalische Gedanken entwickelt, wird in der Mitte von dramatischen Erregungen gestört, die keinen inneren Frieden aufkommen lassen. Der dritte,