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Theorie und Praxis. Wer die Verhandlungen des Reichstages in der ersten Woche des Februar über Wesen und Ziele der Socialdemokratie verfolgt und sich noch ein unbefangenes Urtheil bewahrt hat, wird sich sagen müssen, dafs die Aeufserungen, welche von den Vertretern der staatserhaltenden Parteien den Auslassungen des Führers derSocialdemokratie gegenübergestellt wurden, die letzteren in jeder Beziehung zurückgeschlagen haben. Die Illusionen, welche in den Köpfen schwärmerischer Idealisten spuken, sind von den Vertretern realer An schauungen mit treffendem Hohn abgefertigt worden. Für jeden denkenden Menschen ist durch diese Verhandlungen der Beweis erbracht, dafs die Socialdemokratie zwar umstürzen, aber nicht wieder aufbauen kann; es ist erwiesen, dafs ihre Führer trotz eifrigsten Nachdenkens auch nicht einmal die winzigste Idee von der | Umgestaltung der Dinge besitzen, die sie herbei- | führen wollen. Es darf nach dieser Debatte niemand mehr mit der Behauptung auftreten, dafs der socialdemokratische Zukunftsstaat gegen über dem jetzigen irgendwelche Verbesserung | enthielte; denn diejenigen Politiker, welche ihn herbeiführen wollen, sind nicht imstande gewesen, irgend eine dieser in Aussicht gestellten Ver besserungen auch nur näher darzulegen, ge schweige denn gegen Angriffe zu vertheidigen. Wenn somit denjenigen Parlamentariern, welche im Reichstage die staatserhaltenden Par teien in der erwähnten Discussion geführt haben, ein Erfolg nicht abgesprochen werden kann, so wird man sich doch wohl hüten müssen, die Gröfse dieses Erfolges zu überschätzen; er ist nicht viel mehr als ein Augenblickserfolg. Denn alle, welche logisches Denken noch nicht verlernt haben, haben die socialdemokratischen Ideen längst als nichtig erkannt, ihnen ist also in den Ausführungen der Gegner der Socialdemokratie nicht viel Neues geboten. Sie werden höchstens in ihren Anschauungen über die Socialdemokratie durch die Debatte bestärkt worden sein. Im übrigen beruht der Erfolg darin, dafs sich wenig stens einmal die staatserhaltenden Parteien auch im Reichstag einig gezeigt haben. Jedoch diese- Erscheinung ist nur eine vorübergehende. In der Theorie sind sämmtliche aufsersocial- demokratische Parteien einig, in der Praxis, wo es gilt, der Socialdemokratie nicht blofs mit Worten, sondern mit der That entgegenzutreten, herrscht zwischen diesen Parteien die gröfste Uneinigkeit, ja man kann mit Recht behaupten, dafs sogar einzelne dieser Parteien ihre in der ersten Februarwoche geäufserten Theorieen in der Praxis vollständig verleugnen. Wir wollen uns zur Begründung dieser Be hauptung nicht auf das allgemein politische Gebiet begeben, es liegen ja auch auf dem engeren socialpolitischen genug Thatsachen vor, welche zur Illustration der Verschiedenheit zwischen Theorie und Praxis dienen können. Greifen wir nur zwei heraus. In den Kreisen der Industrie weifs man schon längst, dafs die socialdemokratischen Reihen hauptsächlich durch die Streiks verstärkt werden. Das zeigt sich jedesmal, sobald auch nur ein einigermafsen beträchtlicher Ausstand ausge brochen ist. Und es ist auch natürlich. Die socialdemokratische Partei als solche hütet sich sehr wohl, den Grundsatz zu proclamiren, dafs sie die Streiks als Waffe betrachte, um zu ihrem Ziele zu gelangen. Sie würde damit eines ihrer vorzüglichsten Agitationsmittel aufdecken. Im Gegentheil, so oft in den Parlamenten oder in Versammlungen auf Streiks die Rede kam, hat die Socialdemokratie officiell geleugnet, dafs sie den Arbeitern grundsätzlich die Ausstände anrathe. Jedoch darf man sich durch dies officielle Ge- balren nicht täuschen lassen. Die socialdemokra tischen Führer leiten ihre Agenten in allen Industriebezirken am Gängelband. Wenn sie mit diesen Agenten untereinander zu thun haben, so lauten ihre Ansichten über Streiks ganz anders. Nur so kann man es auch begreifen, dafs die socialdemokratischen Localführer so oft zu Streiks aufhetzen. Die Socialdemokratie hat in jedem Falle von einem Arbeiterausstand Vortheile; schlägt derselbe zu Gunsten der Arbeiter aus, so drängt sie sich sofort hervor und macht darauf aufmerksam, dafs im letzten Grunde sie den Streik angeregt und sie also das Verdienst an der Ver besserung der Lage der Arbeiter habe. Ist der Ausstand aber ungünstig verlaufen, so findet die Socialdemokratie in den Gemüthern der durch wochenlanges Darben erbittert gewordenen Arbeiter einen nur zu geeigneten Boden, auf den sie den Samen der Unzufriedenheit und der Auflehnung gegen die gegenwärtige Staats- und Gesellschafts ordnung säen kann. Man kann deshalb wohl behaupten, dafs jeder Streik der Socialdemokratie neue Anhänger zuführt. Die staatserhaltenden Reichstagsparteien haben alle in ihren Reihen Männer, welche von diesen Thatsachen genau unterrichtet sind. Dennoch ziehen gerade diejenigen Parteien, welche im Reichstage gegenwärtig den Ausschlag geben, nicht die nöthigen Consequenzen daraus. Als die ver bündeten Regierungen den Entwurf zur letzten Gewerbeordnungsnovelle im Reichstage ein brachten, befand sich darin auch eine Aenderung