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230 Nr. 4. „STAHL UND EISEN/ April 1883. In der Versammlung von 6. März 1883 sprach Herr Eisenbahn - Maschinen-Inspe ctor Wichert über das für die Preufsischen Staatseisen- bahnen angenommene System für conti- nuirliche Bremsen. Die Wahl einer einheitlichen continuirlichen Bremse — System Carpenter — für die dem Durchgangsverkehr dienenden Personenzüge auf dem ganzen Gebiet des Preufsischen Staatseisen bahn-Netzes hat ihren gröfsten Werth in der, auf Grund von Berathungen der Vertreter sämmtlicher Kgl. Eisenbahn - Directionen erfolgten Einigung, gegen welche die Wahl eines bestimmten Systems ent schieden zurücktritt. Nachdem Redner die sechs zur Wahl gestellten continuirlichen Bremssysteme — Heber lein, Smith-Hardy, Westinghouse, Sanders, Steel und Carpenter —, die Bekanntschaft mit den Details ihrer Construction bei den Zuhörern auf Grund der viel fach hierüber erfolgten Publicationen als bekannt vor aussetzend, nur mit kurzen Zügen über die principiellen Haupttheile derselben an den ausgehängten Zeich nungen erläutert hatte, bemerkt derselbe historisch, dafs Bestrebungen, continuirliche Bremsen auf den Preufsischen Staatsbahnen einzuführen, bis zur Mitte der siebziger Jahre in sehr geringem Mafse zu Tage getreten sind. Der erste gröfere Schritt in dieser Beziehung war die auf Anordnung des Herrn Ministers der öffentlichen Arbeiten veranstaltete Abhaltung von Wett-Bremsversuchen bei Guntershausen im Jahre 1877. Da eine Einigung hierbei nicht erzielt worden war, wurden im Jahre 1880 neue Versuche angeordnet, und zwar beschlofs man, da die Erhöhung der Be triebssicherheit für schnellfahrende Züge das zunächst vorliegende Bedürfnifs war, nur die Auffindung einer geeigneten Bremse für diese Züge ins Auge zu fassen, von der Ausrüstung der langsam fahrenden Personen züge und der Güterzüge mit einer solchen einheit lichen Bremse aber vorerst abzusehen. Nur durch diese Beschränkung des Zieles ist es ermöglicht wor den, zu einem definitiven Entschlufs zu kommen, da die Auffindung einer für alle Verhältnisse gleich ge eigneten Normalbremse nach den bisherigen Erfah rungen unwahrscheinlich erscheint. Die neuen Ver suche bestanden erstens in abermaligen Wett-Brems fahrten (vom 5. bis 7. September 1881) auf der Strecke Halensee-Dreilinden und zweitens darin, dafs mehrere mit den genannten Bremsen ausgerüstete Trains auf der gleichen Strecke (Berlin-Breslau) in den regel- mäfsigen Betrieb eingestellt wurden (vom 15. October 1881 bis 1. April 1882). Aufserdem wurden noch mehrfache Versuche mit langen Zügen von 40 Achsen angestellt und an denselben das Verhalten der Brem sen, insbesondere auf den Eintritt der Bremswirkung und die Dauer derselben beobachtet. Die bei diesen Versuchen gewonnenen Resultate gaben ein aus reichendes Material, um eine Kritik der einzelnen Bremssysteme in objectiver und sachgemäfser Weise in betreff ihrer Construction, Unterhaltung, Bedienung und Wirkungsweise anstellen zu können. Die Einfachheit der Bremsapparate, übersichtliche Anordnung derselben und Verständlichkeit für das Personal ist für die Vacuumbremse von Smith-Hardy am besten er füllt, die Westinghouse-Bremse ist zu complicirt und in ihrer Wirkungsweise schwer verständlich. Die An wendung zu verlässigen Materials bei den Brems apparaten und dazu gehörigen Leitungen ist für alle Systeme erstes Erfordernifs. Die Erhaltung des betriebsfähigen Zustandes der Bremse ist bei genügender Sorgfalt bei allen Bremsen möglich; De- fecte sind im allgemeinen bei den Vacuumbremsen schwerer zu ermitteln, als bei den Luftdruckbremsen; bei der Garpenter-Bremse erfolgt die Nachstellung der Bremsklötze von selbst, während dies bei den übrigen Systemen durch die Revisionsschlosser bewirkt werden mufs. Die Controle der Apparate und die Leitungen, sowie der Bremsfähigkeit während der Fahrt kann bei der Heberleinschen Frictions- bremse bezüglich des letzteren Punktes nicht bewirkt werden, weil die Wirkung erst bei der Bewegung des Fahrzeuges eintritt; bei der Smith-Hardy-Bremse kann die Bremsfähigkeit während der Fahrt nur zeitweise, durch versuchsweises Benutzen des Ejectors und Be obachtung des Vacuummeter, im ganzen aber in un zulänglicher Weise, geprüft werden. Die Ausschaltung von Wagen mit defecter Bremse ist bei allen Systemen, aufser bei den Vacuumbremsen von Hardy und San ders möglich. Von Witterungseinflüssen ist in geringem Umfange die Westinghouse-Bremse, am meisten die Heberlein-Bremse abhängig. Die Hand habung der Bremse ist bei den Luftbremsen sehr einfach, erfordert jedoch bei der Westinghouse-Bremse grofse Uebung, diejenige der Heberlein-Bremse ermüdet das Personal; letzterer Umstand ist durch die neuer dings in Anwendung gekommene Dampfhaspel wesent lich gebessert worden. Defecte in den Apparaten kann bei der Smith-Hardy-Bremse zur vollen Untaug lichkeit der Bremse im ganzen Zuge führen; bei der Heberlein - Bremse kann durch Festhalten der Leine der Eintritt der Bremswirkung ganz verhindert werden, wie auch bei der Hardy - Bremse ein Defect in der Leitung die Bremswirkung ganz oder theil weise be hindert. Eine absolut zuverlässige Bremswirkung unter allen Umständen ist zwar bei keiner Bremse vorhanden, doch ist der Eintritt einer Versagung der Bremse beim beabsichtigten Bremsen überaus un wahrscheinlich bei der Carpenter - Bremse wegen des vollständigen Fehlens aller Ventile, fast ebenso bei der Westinghouse-, Steel- und Sanders-Bremse, weniger bei der Heberlein- und am wenigsten bei der Hardy- Bremse. Die für die Handhabung des Betriebsdienstes in den Schnellzügen sehr wichtige Manipulation bei dem Aus- und Einsetzen von Wagen wird durch die Construction der Carpenter-Bremse in ihrer neuen Form am besten und absolut zuverlässig bewirkt, während diese Manipulation bei der Heberlein-Bremse aufserordentlich umständlich ist. Bezüglich des Ein tritts der Bremswirkung wurde bei den Versuchen gefunden, dafs dieselbe bei der Heberlein-Bremse am Anfänge des Zuges sofort, am Ende später, am 12. Wagen nach 5 bis 6 Secunden erfolgte; bei der Westinghouse - Bremse tritt die Bremswirkung sofort und. am ganzen Zuge fast zu gleicher Zeit ein; bei Carpenter und Steel beträgt die Zeitdifferenz zwischen der vollen Bremswirkung am 1. und 20. Wagen etwa 15 Secunden, bei der Sanders-Bremse etwas weniger; bei der Hardy - Bremse tritt die Bremswirkung am Anfang des Zuges sofort, am Ende später und mit geringerer Kraft ein. Die elastische Wirkung der Bremse ist bei der Heberlein-Bremse nicht vorhan den, auch bei der Westinghouse-Bremse geschieht der Eintritt der Bremswirkung mit einem Stofs. Die Gleichmäfsigkeit der Bremswirkung während der Bremsdauer kann bei den Luftbremsen erhalten werden; bei der Heberlein-Bremse ist dieselbe wegen der constant bleibenden Länge der Leine neben der Längenänderung des Zuges durch das Zusammen drücken und Auseinandergehen der Buffer weniger vorhanden. Die Aufhebung der Bremswirkung erfolgt bei Heberlein nach etwa 15 Secunden am letzten Wagen, bei Westinghouse und Hardy fast sofort, bei Steel und Carpenter nach 20 Secunden, bei Sanders etwas schneller. Die Wiederholung der Bremswirkung kann bei Heberlein und Hardy beliebig oft erfolgen, bei den automatischen Luftdruck bremsen nur so lange, als Bremskraft im Haupt reservoir vorhanden ist. Die Controle über die Gröfse der Bremswirkung ist bei Heberlein und