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72 Nr. 2. .STAHL UND EISEN.“ Februar 1892. bildung unserer arbeitenden Klassen würde weder wohlthätig für die letzteren noch für die Ge- sammtheit sein. Der Sozialismus hat seine Hauptvertreter, abgesehen von einzelnen hochbegabten, unter richteten Spitzen, in halbgebildeten, durch Schlag wörter gewonnenen und damit andere wieder ködernden Leuten. Die geistige Ausbildung der unteren Volksschichten steht übrigens in enger Beziehung zu den politischen und communalen Rechten, die man ihnen einräumen will. Das allgemeine Wahlrecht hat doch nur dann Sinn, wenn ein einigermafsen vernünftiger Gebrauch davon zu erwarten ist; bei sehr geringer Bildung der unteren Stände erscheint völlige Gleich stellung mit den besser unterrichteten Volks schichten weder zweckmäfsig noch vernünftig, daher auch die Ansichten über die Wohlthaten des allgemeinen Wahlrechtes sehr getheilt sind. Die blinde Menge horcht lieber dem, ihren Leiden schaften schmeichelnden Schreier und Phrasen drescher als dem rechtschaffenen Rathgeber, der das Wohlwollen der Leute nicht in grellen Schilderungen ihrer Entbehrungen und im An rufen ihrer schlechten Eigenschaften sucht, sondern in wirklichen Bemühungen um ihr materielles und geistiges Wohl, dabei aber gleichzeitig Fleifs, Genügsamkeit und Ordnungsliebe verlangt. Die Sozialistenführer haben stets das allgemeine Wald- und Versammlungsrecht neben der unbe schränkten Presse als Hauptmittel ihrer Erfolge bezeichnet. Die in den letzten Jahren hervorgetretene, fieberhafte Neuerungs- und Aenderungssucht auf allen Gebieten des sozialen und politischen Lebens mufste nothwendigerweise die unteren Schichten aufregen und zu überflüssigen, unfruchtbaren Gedanken verleiten. Kaum ein Ding, das dem gemeinen Manne im täglichen Verkehr begegnet, ist geblieben: Das Mafs und Gewicht für seine Einkäufe, die uralten, deutschen Bezeichnungen dafür, die Münzen, in welchen er seinen Lohn empfängt und seine Bedürfnisse zahlt, die Art der Besteuerung, das materielle Recht und die Formen, in denen es geübt wird u. s. w., alles unterlag theilweise radicalen Aenderungen. Selbst das A-B-C-Buch und die Fibel der Kinder bleiben nicht ungeschoren. Das Alte tadelte man, pries dagegen das Neue als heilbringenden Fortschritt. Kein Wunder, dafs die Leute auch die Schatten seiten ihrer Zustände beleuchtet und darauf ähn liche Verbesserungsexperimente angewandt wissen wollten, wie bei allen übrigen Dingen. Andere Völker, z. B. die Engländer, sind darin mit Recht viel conservativer geblieben. Bezeichnend ist es, dafs man an einer der festesten, bewährtesten Institutionen unseres Staates, am Heerwesen, wenig gerüttelt hat. Die Zahl der Armeecorps wurde vermehrt, zweckmäfsigere Einrichtungen getroffen, die Bewaffnung selbstredend den neuen Er fahrungen angepafst, aber in den Grundzügen, in der ganzen Organisation und im inneren Ver bände ist noch stets selbst bis in einzelne De tails hinein das bewährte, frühere System beibe- halten worden. Sogar vor häufigen Aenderungen von Aeufserlichkeiten, z. B.: Uniformen, Comman- dos u. s. w., hat man sich gehütet und zwar mit vollem Rechte. Die gewaltigen Erfolge unserer Heere beruhen sicherlich nicht zum geringsten Theile auf dieser conservativen Erhaltung be währter Einrichtungen von Seiten unserer Herrscher und deren sachkundigen Berather. Es geht der heutigen Gesellschaft mit diesen Dingen wie dem Zauberlehrling in der Goetheschen Ballade, jedoch fehlt der kluge Alte, welcher den verhexten Besen zuletzt in seine gewöhnliche Ecke wieder bannt. Der Fortschritt ist etwas sehr schönes, aber man mufs die von ihm ge botenen Gerichte auch hinreichend verdauen können. In rein katholischen Gegenden, namentlich auf dem platten Lande, hat die Geistlichkeit durchschnittlich die Bevölkerung vor sozialisti schen Regungen mehr bewahrt als anderswo, sonstige Schattenseiten der clericalen Bevormun dung mögen sich dabei wohl geltend gemacht haben. Der Einflufs auf die Frauen hat sicher lich keinen geringen Antheil an jenen Erfolgen. Es giebt dies einen bedeutungsvollen Wink, wo ein Haupthebel zur Beseitigung unserer sozialen Schäden anzusetzen ist. Der wichtigste Factor für das Gedeihen der Ar beiterfamilie liegt in einerordentlichen, braven Haus frau. Fehlt diese, so ist selbst bei guten Lohnver- diensten Verkommenheit, Armuth und Elend meist unvermeidlich. Jeder mit den Zuständen Vertraute wird bestätigen können, wie häufig tüchtige Arbeiterfrauen ihre zum Leichtsinn ge neigten Männer im Zaume zu halten und vor Ausschreitungen zu bewahren wissen. Eine fleifsige, brave, entschlossene Hausfrau mit etwas 1 besserer Schulbildung wird ihrem Manne sehr bald sozialistische Grillen austreiben und auf die richtige Bahn lenken. Wer Arbeiterwohnungen häufiger besucht, findet allemal in den Eigenschaften ' der Ehefrau die Grundlagen des reinlichen, sauberen und gedeihlichen Hauswesens. Ein Hauptübel । unserer Arbeiterzustände liegt im häufigen Fehlen eines einigermafsen behaglichen, zufriedenstellen- I den Heimes, dessen Mangel der Wirthshausbesuch dann decken soll. Es ist gar nicht gleichgültig, • ob der Mann nach gethaner Arbeit in eine saubere, behagliche Stube tritt, gut erzogene, reinliche Kinder ihn empfangen, ein schmackhaftes Essen ihm vorgesetzt wird, oder aber Schmutz und Vernachlässigung ihm überall entgegenstarren. Die Arbeiterfrau kann ihre Schulbildung oft besser als der Mann verwenden durch genaue Berech nung ihrer Haushaltungsausgaben, Nachhülfe der Kinder bei ihren häuslichen Schularbeiten, An-