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Berichte über Versammlungen aus Faclwereinen 646 Stahl und Eisen. 15. August 1896. Öffentlichungen und die Aussetzung von Preisaufgaben für hervorragende Leistungen auf dem Gebiete des Eisenbahnwesens erwarb sich der Verein auch nach der wissenschaftlichen Seite bleibende Verdienste. Eine zweite, nicht minder werthvolle Festgabe überreichte dem Verein die Preufsische Staatseisen bahnverwaltung in dem Prachtwerk „Berlin und seine Eisenbahnen 1846 bis 1896“;* die hierin liegende Anerkennung der Thätigkeit des Vereins ist als hocherfreulich zu bezeichnen. Die Schrift gereicht ihren Verfassern und dem Verkehrsministerium zur hohen Ehre. Nach einer herzlichen Begrüfsungsfeier in der Loge Royal York am Vorabend eröffnete am 28. Juli im Abgeordnetenhause am Dönhoffsplatz Präsident Kranold von der Königl. Eisenbahndirection Berlin die erste Sitzung, welche sich zur eigentlichen Fest sitzung gestaltete. Er begrüfste zuerst die in Zahl von etwa 260 erschienenen Abgeordneten der ver schiedenen Staaten, dann verlas Minister Thielen einen Cabinetsbefehl, in welchem der Kaiser dem Verein seine Glückwünsche in huldreicher Weise aus sprach, überreichte die erwähnte Festschrift und theilte eine Reihe von Ordensverleihungen und Rang erhöhungen mit, ihm folgten die Vertreter der anderen Staaten, namentlich v. Wiltek aus dem österreichischen Eisenbahnministerium, der bayrische Ministerpräsi dent v. Crailsheim, der sächsische Minister v. W a t z d o r f u. a., welche neben ihren Glückwünschen ebenfalls meistens Ordensauszeichnungen überbrachten. Hierauf wurden verschiedene Glückwunschschreiben und Telegramme verlesen, darunter auch ein solches vom „Verein deutscher Eisenhüttenleute“. Nachdem sodann ein von Kranold gezeichnetes Huldigungstelegramm an Se. Majestät abgeschickt worden war, hielt Ober-Finanzrath Ledig einen in haltsreichen, fesselnden Vortrag über den Einflufs der Eisenbahnen auf Cultur und Volks- wirthschaft. Wer heute, so führte Redner u. a. aus, eine Eisen bahngeschichte schreiben will, mufs damit gleichzeitig eine Weltgeschichte schreiben; für uns Deutsche kommt namentlich die Bedeutung in Betracht, welche die Eisenbahnen auf die Annäherung der einzelnen deutschen Stämme und somit auch auf ihr Verwachsen zu einem Einheitsstaate gehabt hatten. Von der Be deutung der im Verein vertretenen Eisenbahn verwaltungen geben folgende Zahlen ein Bild: Die gesammte Geleislänge beträgt 128000 km, so dafs man mit diesen Geleisen den Erdball am Aequator dreimal umgürten könnte. Von den 24000 Locomotiven des Vereins durchfuhr durchschnittlich jede in einem Jahre eine Strecke, welche länger ist als die Hälfte des Erdumfangs; die 47 000 Wagen des Vereins konnten gleichzeitig 1900000 Menschen aufnehmen, und der Verbrauch an Kohlen betrug in dem einen Jahre 1894 nicht weniger als 98 Millionen Mark. Redner be handelte dann eingehend die Verdienste des Vereins um die Vervollkommnung der Technik, die den an- I scheinend so ungeheuer verwickelten Betrieb einfach und praktisch gestaltet habe. Wörtlich fuhr er dann fort: „Und doch würde es ein verhängnifsvoller Irrthum sein, wenn wir angesichts dieser grofsen Erfolge schon heute einen gewissen Endpunkt in der Entwicklung und wirthschaftlichen Ausbildung unseres Eisenbahn wesens erreicht zu haben glaubten. Die Eisenbahn- Verwaltung ist am allerwenigsten in der Lage, auf einen langen Bestand ihrer Einrichtungen rechnen zu können. Das ewig wechselnde Verkehrsbedürfnifs * „Berlin und seine Eisenbahnen 1846 bis 1896“. Herausgegeben im Auftrag des Königl. Preufsischen Ministers der öffentlichen Arbeiten. 2 Bände. Bei Jul. Springer in Berlin. Preis 40 . bringt es mit sich, dafs das, was heute gut und zweck- mäfsig, oft morgen schon veraltet und unzweckmäfsig ist, und dafs Einrichtungen, welche jahrelang günstig auf die Entwicklung des Verkehrs wirkten, infolge des Auftretens neuer Gesichtspunkte und Verhältnisse mit einem Schlage als unbrauchbar verworfen werden müssen. Die Constellation der einzelnen Verkehrs beziehungen ist eine so flüchtige und das Anwachsen der von den Eisenbahnen zu erledigenden Verkehrs aufgaben ein so rapides, dafs in der Eisenbahnwirth- schäft von einem Stillstände niemals die Rede sein kann; mehr wie irgend wo anders hat hier das Wort zu gelten: Stillstand ist Rückschritt! Und dann, sind wir — wenn wir von den Aufgaben und der Arbeit des Vereins als solcher absehen wollen — trotz allem Guten und Vortrefflichen, was während der letzten Decennien in technischer und administrativer Hinsicht auf dem Gebiete des Eisenbahnwesens geschaffen worden ist, wirklich in der Lage, alle und jede Ein richtung als so vollendet, als so den thatsächlichen Verkehrsbedürfnissen angepafst zu bezeichnen, dafs eine Reform überhaupt nicht in Betracht zu kommen hätte? Zur Beantwortung dieser Frage möchte ich keinesfalls auf die Stimmen Bezug nehmen, die in ziemlich heftiger und tendenziöser Weise in den letzten Jahren aus einer gewissen Gruppe des Publikums über dieses Thema laut geworden sind und die zu meist auf eine grundsätzliche Verurtheilung desjenigen hinauslaufen, was seitens der Eisenbahnverwaltungen — namentlich auf dem Gebiete des Personenverkehrs — gethan worden ist. Denn die Forderungen, welche hier erhoben werden, gehen weit über das Ziel des wirklich Erreichbaren hinaus und würden nur dann discutabel sein, wenn die Eisenbahn zu Gunsten ihrer Eigenschaft als Verkehrsförderin vollständig auf ihren Charakter als wirthschaftliches Erwerbsinstitut Verzicht leisten wollte. Und auch dann wäre es sehr fraglich, ob die Vorschläge, welche die Verfechter jener Reform ideen mit allem Nachdruck vertreten, geeignet wären, für den Verkehr selbst die erhofften Vortheile zu bringen. Eine schrankenlose oder doch nahezu schrankenlose Mobilisirung der Bevölkerung würde in wirthschaftlicher, socialer und politischer Hinsicht die gröfsten Bedenken in sich schliefsen und unter Umständen geeignet sein, die Segnungen einer ratio nellen Verkehrs-Erleichterung in das gerade Gegen theil zu verwandeln. Das Wort „sunt certi denique fines“ hat auch in der Eisenbahnwirthschaft und speciell rücksichtlich der Personentarife zu gelten; es könnte sonst leicht der Fall eintreten, dafs ein Volk ohne Vaterland, ohne Domicil und ohne Familien zusammenhalt erzogen würde, welches, wirthschaftlich unbrauchbar und politisch interesselos, für den Be stand des Staates und der Gesellschaftsordung bald eine grofse Gefahr bilden müfste. Ich möchte es als zweifellos betrachten, dafs gerade die finanziellen Rücksichten, welche die Eisenbahnverwaltung bei allen ihren Mafsnahmen nothgedrungen im Auge zu behalten hat, in vielen Beziehungen ein gesundes Gleichgewicht erhalten und dafs insofern die Doppel natur der Eisenbahn — einmal als Dienerin des Ver kehrs, das andere Mal als wirthschaftliche Erwerbs anstalt — nur vortheilhaft auf eine rationelle, in sich selbst zusammenhängende Verkehrsentwicklung ein wirken kann. Müssen wir deshalb ein näheres Ein gehen auf jene utopistischen Forderungen der Neuzeit ablehnen, so wird andererseits auch der Eisenbahn fachmann anzuerkennen haben, dafs gewisse Ein richtungen, namentlich in den Beziehungen des Personenverkehrs, noch keineswegs so sind, wie sie sein sollten, und dafs gerade auf diesem Gebiete in mancher Hinsicht noch der grofse Zug zu vermissen ist, der dem gewaltigen Grundgedanken des Eisenbahn wesens entspricht. Ich brauche zum Beweise dessen nicht auf Einzelheiten einzugehen, uns allen und