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15. Juli 1896. Das Schiüberechtigungstvesen vom socialen Standpunkt aus. Stahl und Eisen. 515 reicht gerade hin, den Dünkel auf vermeintliche Bildung zu nähren, nicht aber, der gewerblichen Aufgabe gerecht zu werden.“ Gewifs nimmt auch der Secundaner des Realgymnasiums keine abgeschlossene Bildung mit ins Leben hinaus, aber gegenüber dem bifschen Griechisch seines humanistischen Kameraden kann er in die Waag schale werfen: so viel Kenntnifs des Französischen und Englischen, um ohne Schwierigkeiten diese Sprachen weiter betreiben zu können, umfassendere Kenntnifs in der Mathematik und vermehrte Fertig keit im Rechnen, endlich tüchtige Uebung im Zeichnen. Da ist doch wohl anzunehmen, dafs er mit dieser Art von Bildung im bürgerlichen Leben im allgemeinen weiter kommt, als sein huma nistisch gebildeter Genosse. Nach dieser Richtung hin giebt es noch einen einwandfreien Zeugen, der in seinen Schriften und in der Berliner Schul- conferenz von 1890 streng die Interessen des gelehrten Unterrichtes — es ist Professor Paulsen — vertreten hat und doch zu dem Geständnifs kommt: „Die Gymnasialpädagogik ist oft durch allerlei luftige Begriffe so weit über den Boden der Wirk lichkeit erhoben worden, dafs sie die Bedürfnisse der wirklichen Menschen nicht mehr sah, sondern nur darauf bedacht war, ihren imaginirten Menschen mit jeglicher Zierde der Bildung zu behängen; ja, sie hat auf ihre Verachtung der Wirklichkeit eine eigene Theorie gemacht, sagend: es sei gemeiner Utilitarismus und Materialismus, in Fragen der Erziehung und des Unterrichtes der Brauchbarkeit eine Stimme einzuräumen. Ich meine, Kenntnisse haben einen Werth durch ihre Brauchbarkeit, dadurch, dafs sie ihren Inhaber klüger und weiser oder zur Erfüllung seiner Lebensaufgaben im weitesten und tiefsten Sinne des Wortes geschickter machen. Kenntnisse, welche nur ein passives Besitzthum ausmachen, haben gar keinen Werth; sie sind leicht von negativem Werth: sie sind die eigentliche materia peccans, welche die geistigen Krankheiten des Schulhochmuthes und der Schul dummheit erzeugt.“ Jene Ueberhebung aber, deren Bazillen auch insofern im Klassicismus ihren geeigneten Nährboden finden, als dieser Unterricht doch stets dem Schüler den Hinweis darauf vor Augen bringt, wie verachtet Handwerk und Ackerbau im Alter- thum waren, jene Ueberhebung ist auch dadurch nach der socialen Seite hin gefährlich, dafs sie Hunderte und Aberhunderte unserer jungen Leute für den praktischen Beruf, namentlich für die Arbeit mit der Hand, verdirbt; denn Dr. Gercken hat völlig recht, wenn er meint, dafs viele aus der Untersecunda des humanistischen Gymnasiums abgehende Söhne das Schurzfell des Vaters oder die Ladenschürze des Bruders nicht mehr für würdig eines Menschen halten, der allwöchentlich mit Xenophon einige hundert Parasangen marschirt ist oder die rosenfingerige Eos täglich am Horizonte Homers hat auftauchen sehen. Dem von humanistischer Seite zu erwartenden Vorwurf gegenüber, dafs auf diese Weise die all geheiligte Grundlage unserer höheren Bildung er schüttert werde, fragt der Vortragende zunächst, ob denn das Gymnasium selbst durchaus und nach jeder Richtung hin an dieser Grundlage fest zuhalten vermocht hat. Hätte es dies vermocht, dann müfsten wir doch noch heute die alten Humanisten schulen haben, die kein anderes Ziel kannten, als lateinisch reden, lateinisch schreiben, ein Ziel, das vor allem der Strafsburger Rector Johannes Sturm mit unerbittlicher methodischer Folge richtigkeit von der untersten bis zur obersten Klasse verfolgt hat! Dann müfsten wir auch noch an unseren Universitäten die Vorlesungen in lateinischer Sprache haben, von deren Abschaffung, wenn ich nicht irre, die jetzt unsere realgymnasialen Berechtigungen so lebhaft befürwortende Würz burger medicinische Facultät noch am Anfänge dieses Jahrhunderts befürchtete, dafs dann lauter Pfuscher im ärztlichen Stande erzogen werden würden. Nein, eine jede Schule bat ihren Lehr plan doch auf die Dauer nach den Forderungen zu gestalten, welche die jeweilige Gulturentwicklung an das zu erziehende Geschlecht stellt, und der heutigen Gulturentwicklung entspricht der in seinen Grundlagen den politischen und wirthschaft- liehen Zuständen der Mitte unseres Jahrhunderts angepafste Lehrplan unserer Gymnasien wenigstens insofern nicht mehr, als er nicht für alle unsere, die höheren Lehranstalten besuchenden Söhne die für die gegenwärtige Zeit genügende Bildung vermittelt, sondern höchstens noch für den wieder holt charakterisirten Bruchtheil. Es mufs doch ziemlich schwach um die Sieg- haftigkeit der durch das humanistische Gymnasium vertretenen, so hochgepriesenen Idee bestellt sein, wenn deren Vertreter sich so sehr vor dem Wett bewerb anderer Anstalten fürchten, dafs sie unserem Vorschläge, freie Bahn für alle Anstalten mit neunjährigem Gursus zu schaffen, so lebhaften Widerstand entgegensetzen. Vortragender meint, freuen sollten sich die Herren, wenn sie ihre Lehrpläne, die sie, durch die moderne Entwicklung unseres Schulwesens gezwungen, doch mit allerlei modernem Unterrichtsstoff haben versehen müssen, nun rückwärts revidiren könnten und zu den alten Idealen einer Bildung, wie man sie in der Mitte dieses Jahrhunderts auf der „Pforte“ genofs, völlig zurückkehren könnten. W i r hindern sie ja nicht daran; wir behaupten nur, dafs diese Bildung für den bei weitem gröfsten Theil des deutschen Volkes heute nicht mehr genügt, und dafs deshalb diese Bildung aus socialen Rücksichten fernerhin nicht mehr durch ausschliefsliche Berechtigungen monopolisirt werden darf, und fordern deshalb diese Berechtigungen auch für unsere anderen Lehranstalten. Denn an uns sind die Verände rungen unserer staatlichen, wirthschaftlichen und socialen Verhältnisse seit den fünfziger Jahren